Sportpsychologie

Das Gehirn als trainierbarer Muskel

Jahrelang geübte Bewegungsmuster laufen mitunter nicht fehlerfrei, wenn?s darauf ankommt. Wie kann man Geist und Psyche trainieren? Ein zentrales Thema unter Sportmedizinern.

13.11.2018

Von KLAUS VESTEWIG

Kopfsache  ein legendärer Fehlschuss: Beim EM-Finale 1976  drischt Uli Hoeneß den Ball in den Nachthimmel von Belgrad. Foto: Imago

Kopfsache ein legendärer Fehlschuss: Beim EM-Finale 1976 drischt Uli Hoeneß den Ball in den Nachthimmel von Belgrad. Foto: Imago

Für gute Fußballer kein Problem: Im Training verwandeln sie neun von zehn Elfmetern. Im Spiel aber liegt die Quote nur bei 60 bis 70 Prozent. In der Wettkampfsituation spielt der Kopf als Steuerzentrale sportlicher Handlung eben oft nicht mit. Die Folge: Instabilität und Unsicherheit. Die Psyche als einschränkender Faktor.

Es kann aber auch ganz anders sein. 6. Mai 1954, Oxford: Der Brite Roger Bannister läuft die englische Meile (1609?m) als erster Mensch unter vier Minuten. Jahrelang hatten die besten Läufer der Welt vergeblich versucht, diese legendäre Grenze zu unterbieten. Schon sechs Wochen nach Bannisters umjubelten 3:59,4 Minuten wurde die Bestmarke erneut übertroffen, ja im selben Jahr blieben noch 36 weitere Mittelstreckler unter der einstigen Traummarke. „Da war ein anderes Zutrauen da, der Bremsklotz war weg. Der Kopf kann Möglichkeiten freisetzen“, sagte Sportpsychologe Thorsten Leber vor 350 Übungsleitern, Trainern und Ärzten in Stuttgart.

Mit Hilfe welcher sportpsychologischer Trainingstechniken kann man Handlungen verbessern, die durchaus auch auf Alltagssituationen mit ähnlichen Herausforderungen wie Prüfungen, Vorstellungsgespräche oder Ansprachen vor einer größeren Gruppe zutreffen? Das war eine der Fragen beim 42. Sportmedizinischen Seminar des Württembergischen Landessportbunds (WLSB) „Sport & Gehirn – Bewegung fängt im Kopf an“.

Kein Platz fürs Teufelchen

In der Praxis haben sich vor oder in der Wettkampfsituation vier Bausteine bewährt. „Das wichtigste Gespräch ist mit Dir selbst“, betont Leber, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Institut für Sportwissenschaft der Uni Tübingen und darüber hinaus seit sechs Jahren beim Nachwuchsleistungszentrum des VfB Stuttgart und in der Betreuung des Tischtennis-Nationalkaders der Behinderten tätig. Das Selbstgespräch, das nicht laut sein muss, dient zur positiven Einstimmung, zur Motivation und zum Nachdenken über Lösungen. „Wir benötigen Argumente für das Engelchen, keine Gedanken für das Teufelchen“, verdeutlicht Leber.

Ganz personenbezogen gibt es aber auch Anti-Beispiele. Im Viertelfinale der Australian Open 2007 beschimpfte sich Tennisspieler Tommy Haas im Spiel gegen den Russen Nikolay Davydenko selbst heftig: „Ich kann es nicht, ich kapier es nicht. Für was mache ich die Sch? Habe keine Lust mehr. Du bist ein Vollidiot!“. Leber sieht es so: „Es kann sinnvoll sein, den Dampf rauszulassen, aber nur am Anfang. Sich den Druck nehmen, vielleicht braucht er das.“ Dann aber müsse er sich auf die nächsten Ballwechsel konzentrieren. Was Haas damals nach seinem Wutausbruch auch tat – und noch gewann.

Eine zweite Maßnahme ist das mentale Training, also das planmäßig bewusste Vorstellen einer Bewegung ohne deren tatsächliche Ausführung. Dieses „Kopfkino“, das bereits angelegte Bewegungsmuster stabilisieren kann, praktiziert zum Beispiel Bayern-Stürmer-Star Robert Lewandowski.

Die Aktivierung von Erfolgsspuren reicht vom Betreten des Stadions über Publikum und Rasen bis zum Erfühlen des Torschusses.

„Je öfter ich mentales Training mache, um so breiter wird der Trampelpfad. Umso wahrscheinlicher ist es, dass ich es in der Wettkampfsituation auch schaffe“, versichert Leber.

Dritter Baustein ist die Balance zwischen Aktivierung und Entspannung. In der sportpsychologischen Lehre ist ein mittleres Anspannungs-Niveau am günstigsten, das ist freilich bei jedem Menschen und in jeder Sportart unterschiedlich. Musik und die Konzentration aufs Ein- und Ausatmen kann entspannend sein. „Die Nervosität darf sein, man sollte sie als leistungssteigernd anerkennen“, so Leber. Freilich gilt es, sie so zu steuern, dass sie im Wettkampf tatsächlich hilft. Zu viel Aktivierung kann genauso hinderlich sein wie zu wenig.

Hilfreich hierbei ist das sogenannte Prognosetraining, also eine Form von Wettkampfsimulation, die im Training zu einem klar festgelegten Zeitpunkt durchgeführt werden kann. Eventuell sogar mit der Einführung realitätsnaher Erschwernisse: also Druck durch eine längere Laufstrecke, einen verzögerten Startzeitpunkt, Lärm und Ablenkung, Flutlicht oder ungerechte Schiedsrichter. „Unser Gehirn ist ein trainierbarer Muskel“, erklärt Leber.

Vertrauen in Fähigkeiten

Bei der vierten Trainingstechnik schließlich geht es um die Kompetenzerwartung. Gemeint ist das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, wenn es darauf ankommt. Das kann der Sportler gewinnen, in dem er sich schwierige, bereits bewältigte Situationen vor Augen führt. Das Ideal: Der Glaube, ich kann's auch heute und auch gegen diesen Gegner! Einen maßgeblichen Einfluss darauf haben konstruktive, aufbauende Feedbacks mit anderen wie dem Trainer und sich selbst.

Psychologisch noch herausfordernder wird es beim komplexen Gesamtsystem von Sportmannschaften. Wenn es zum Beispiel beim am besten besetzten und mit Abstand erfolgreichsten deutschen Fußballteam, ergänzt durch einen guten Trainer, nicht läuft. Konkret will sich Thorsten Leber nicht zum FC Bayern München äußern. Seine allgemeine Einschätzung: „Wenn man an einer Seite etwas verändert, verändert sich das Ganze. Ein neues Teilchen kann das ganze Gleichgewicht durcheinanderbringen.“ Überdies: Kommunikation und Verlässlichkeit spielten eine große Rolle – ebenso, unterschiedlich erfahrene Spieler neu zu motivieren.

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Erstellt:
13.11.2018, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 22sec
zuletzt aktualisiert: 13.11.2018, 06:00 Uhr

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