Politik

Faires Europa

Klimawandel, Globalisierung, Digitalisierung: Ferdinand von Schirach plädiert in seinem Buch „Jeder Mensch“ für neue Grundrechte.

08.04.2021

Von JÜRGEN KANOLD

Bestsellerautor und Anwalt der Menschenwürde: Ferdinand von Schirach. Foto: Jörg Carstensen/dpa Foto: Jörg Carstensen/dpa

Bestsellerautor und Anwalt der Menschenwürde: Ferdinand von Schirach. Foto: Jörg Carstensen/dpa Foto: Jörg Carstensen/dpa

Ulm. Ferdinand von Schirach war Ende März 2020 beeindruckt vom weltweiten Lockdown: „Wir können offenbar alles, wenn Gefahr droht, das haben wir jetzt gelernt.“ Damals führte er mit Alexander Kluge ein Gespräch über die Coronavirus-Pandemie und damit eine Zeitenwende, die beides möglich mache: „das Strahlende und das Schreckliche“. Unter dem Titel „Trotzdem“ erschien das Büchlein der politisch denkenden Juristen und Schriftsteller. Ihr nach wie vor aktuelles Hauptthema: die bürgerlichen Freiheitsrechte im Ausnahmezustand.

Schirach hob auf das Strahlende ab: „Vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte der modernen Staaten haben wir gesehen, dass die Politik alles ermöglichen kann.“ Nie wieder werde deshalb ein Politiker zu einer jungen Frau sagen können, Klimaschutzmaßnahmen seien nicht zu verwirklichen, weil sie zu teuer sind, zu kompliziert oder die Gesellschaft zu sehr einschränken. Warum also die Lehren nicht ins Positive ziehen? Schirach dachte dabei an die europäische Idee, er schlug vor, das Ruder herumzureißen „und uns endlich eine europäische Verfassung“ zu geben.

EU im Impfdesaster

Das war vor einem Jahr gewesen. Dann kam das Impfdesaster. Die Europäische Union steht als Gemeinschaft erschöpft und sowieso uneinig, zerstritten da und schon gar nicht als handelnd rettender Player in der Corona-Krise. Schirach freilich, der omnipräsente Anwalt der Menschenwürde, der Dramatiker („Terror“, „Gott“) und Bestsellerautor („Der Fall Collini“), hat nachgelegt. In seinem neuen, nur 32 Seiten dünnen Buch „Jeder Mensch“, das eigentlich erst am 13. April bei Luchterhand erscheinen soll, das aber schon jetzt viel diskutiert wird, hat er sechs neue EU-Grundrechte formuliert.

Der 56-Jährige will damit nichts weniger als eine Bürgerbewegung begründen. Er fordert alle Europäer dazu auf, im Internet diese neuen Grundrechte zu unterschreiben (www.jeder-mensch.eu), um die Politik unter Druck zu setzen, einen europäischen Verfassungskonvent einzuberufen. Damit leiste jeder Mensch einen Beitrag, um nachfolgenden Generationen etwas Glückliches, etwas „Strahlendes“ zu hinterlassen – da ist es wieder, dieses verheißungsvolle Wort.

Die neuen Grundrechte sollen die Umwelt schützen, digitale Selbstbestimmung ermöglichen („die Ausforschung oder Manipulation von Menschen ist verboten“) und unser Leben mit intelligenten Maschinen regeln („wesentliche Entscheidungen muss ein Mensch treffen“). Es geht, urdemokratisch, darum, dass jeder Mensch das Recht hat, „dass Äußerungen von Amtsträgern der Wahrheit entsprechen“. Und ein Artikel bezieht sich direkt auf die Globalisierung: Waren und Dienstleistungen sollen „unter Wahrung der universellen Menschenrechte“ hergestellt und erbracht werden.

Das wären nicht zuletzt Großangriffe auf die Weltwirtschaft und die digitalen Konzerne Facebook und Google. Schirach aber geht noch weiter, denn er meint es ernst mit diesen Freiheitsrechten. Sein Artikel sechs, und jetzt wird es juristisch spannend, sieht vor, dass jeder Mensch diese Rechte einklagen kann vor den Europäischen Gerichten. Das klingt alles so zeitgemäß, verhältnismäßig, legitim wie vernünftig – bezüglich einer Umsetzung aber völlig unrealistisch. Diese Grundrechte erscheinen naiv, utopisch. Ferdinand von Schirach weiß das natürlich am besten, sagt aber, dass genau darin ihre Kraft liegen könnte.

Schirach, dieser skrupulös klar denkende und schreibende Autor, arbeitet in seinem neuen Buch mit viel Pathos, um seine Ideen plausibler zu machen. Er beginnt mit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, in der 1776 als „selbstverständliche“ Wahrheit erachtet wurde, „dass alle Menschen gleich geschaffen sind“; 25 der 55 Delegierten, die später in Philadelphia die amerikanische Verfassung berieten, besaßen aber Sklaven. Erst 1965 trat der „Voting Rights Act“ in Kraft, die allen Schwarzen das volle Wahlrecht gab. Auch die „Erklärung der Menschenrechte“, die der Marquis de Lafayette 1789 formulierte, blieb nur „die Hoffnung auf eine bessere Welt“, als die Französische Revolution mit der Guillotine tötete.

Diese Deklarationen spiegelten nicht die Wirklichkeit wider, schreibt Schirach, sie verlangten eine Ordnung der Gesellschaft, die es noch nicht gab. Und doch seien die Utopien heute weitgehend wahr geworden. „Aber jetzt stehen wir vor ganz neuen Herausforderungen.“ Das Internet oder die Macht der Algorithmen kannten die Mütter und Väter der alten Verfassungen wirklich nicht.

Es haben mehrere Staats- und Europarechtler an Schirachs Text mitgewirkt, seine Initiative hat bereits viele prominente Unterstützer, auch Jan Böhmermann. Spannend, ob sich tatsächlich eine Bürgerbewegung entwickelt oder ob es bei der hierzulande eher seltenen politischen Wortmeldung eines Autors und Intellektuellen bleibt.

Zum Artikel

Erstellt:
08.04.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 09sec
zuletzt aktualisiert: 08.04.2021, 06:00 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen

Sie möchten diesen Inhalt nutzen? Bitte beachten Sie unsere Hinweise zur Lizenzierung.

Push aufs Handy

Die wichtigsten Nachrichten direkt aufs Smartphone: Installieren Sie die Tagblatt-App für iOS oder für Android und erhalten Sie Push-Meldungen über die wichtigsten Ereignisse und interessantesten Themen aus der Region Tübingen.

Newsletter


In Ihrem Benutzerprofil können Sie Ihre abonnierten Newsletter verwalten. Dazu müssen Sie jedoch registriert und angemeldet sein. Für alle Tagblatt-Newsletter können Sie sich aber bei tagblatt.de/newsletter auch ohne Registrierung anmelden.
Das Tagblatt in den Sozialen Netzen
    
Faceboook      Instagram      Twitter      Facebook Sport
Newsletter Wirtschaft: Macher, Moneten, Mittelstand
Branchen, Business und Personen: Sie interessieren sich für Themen aus der regionalen Wirtschaft? Dann bestellen Sie unseren Newsletter Macher, Moneten, Mittelstand!