Soziale Netzwerke

Facebooks 11. September

Seit dem Sturm aufs Washingtoner Kapitol stehen die großen Social-Media-Konzerne unter Beschuss wie nie zuvor. Sollten für sie die gleichen Regeln gelten wie für klassische Medien?

22.01.2021

Von IGOR STEINLE

Plattform für Lautsprecher: Die Online-Giganten. Montage Scherer / Fotos v. oben n. unten: Alex Brandon/dpa/AP; Olivier Matthys/AP Pool/dpa; ©tanuha2001, ©Von Dan Thornberg, ©rvlsoft, ©FREEPIK2, ©solomon7 (2),  ©TotemArt/Shutterstock.com Foto: Montage Scherer / Fotos v. oben n. unten: Alex Brandon/dpa/AP; Olivier Matthys/AP Pool/dpa; ©tanuha2001, ©Von Dan Thornberg, ©rvlsoft, ©FREEPIK2, ©solomon7 (2), ©TotemArt/Shutterstock.com

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Berlin. Thierry Breton ist um martialische Vergleiche selten verlegen. „Krieg der Netzwerke“ lautet ein Buchtitel von ihm, schon in den 1980er-Jahren beschrieb der EU-Binnenmarktkommissar Computerviren als Massenvernichtungswaffe. Auch für die Gegenwart hat er einen robusten Vergleich parat: Die Erstürmung des US-Kapitols war das 9/11 der sozialen Netzwerke, sagt der wichtigste Digitalpolitiker Europas. „So wie der 11. September einen Paradigmenwechsel bei der weltweiten Sicherheitspolitik markiert hat, werden wir 20 Jahre später Zeuge eines Vorher-Nachher bei der Rolle von digitalen Plattformen in unserer Demokratie.“

Tatsächlich scheinen Politiker dies- und jenseits des Atlantik entschlossener denn je, dem ungehemmten Treiben auf Facebook, Twitter und Co. Einhalt zu gebieten. „Wir werden in Europa verbindliche Pflichten für die Internetplattformen schaffen, um Wahlen zu schützen, Hetze zu löschen und gegen Lügen und Verschwörungsmythen konsequent vorzugehen“, sagt Justizministerin Christine Lambrecht (SPD). Und auch der frisch eingesetzte US-Präsident Joe Biden hat in der Vergangenheit immer wieder angekündigt, die Zügel für Social Media anzuziehen.

In den USA werden soziale Netzwerke bisher, anders als in Deutschland, kaum reguliert. Ein Gesetzesabschnitt von 1996 („Section 230“) beschreibt die Rechte und Pflichten der Plattformen. Er besagt, dass Online-Dienste nicht für von Nutzern veröffentlichte Inhalte wie Kommentare oder Videos haftbar gemacht werden können. Zugleich wird den Diensten erlaubt, gegen Inhalte wie etwa Pornographie, Terrorpropaganda oder problematische Nutzer vorzugehen. Sie bekämen damit „einen Schild und ein Schwert“, erklärten die Autoren der Regelung damals.

Das Motiv der Gesetzgeber war, die Entwicklung der jungen Tech-Unternehmen nicht mit zu viel Regulierung zu hemmen. Die Rechnung ist aufgegangen, die amerikanische Digitalindustrie sucht weltweit ihresgleichen. Für den renommierten US-Internetexperten Jeff Kosseff, Professor für Cybersicherheit an der US-Marineakademie, sind die Worte der Section 230 deswegen nichts weniger als „die 26 Worte, die das Internet erschufen“.

Doch der Erfolg hat seinen Preis: Weil die Algorithmen der Plattformen aus Profitgründen kontroverse Beiträge bevorzugen – diese halten die Nutzer länger auf den Seiten und steigern so die Werbeeinnahmen –, begünstigten sie weltweit gesellschaftliche Polarisierung und den Aufstieg von Verschwörungsmythen.

Das alles ist seit Jahren bekannt. Dennoch blieben die Plattformen vor allem in den USA weitestgehend untätig. Erst im vergangenen Jahr, wenige Monate vor der US-Wahl, machten die Konzerne couragierter von ihrem Schwert Gebrauch und gingen gegen wahl- und coronabezogene Falschinformationen vor. Das bekam auch der inzwischen abgewählte Präsident Donald Trump zu spüren, dessen Tweets auf einmal mit Faktenchecks und Warnhinweisen versehen wurden. Nach dem Sturm aufs Kapitol sperrten Facebook und Twitter sein Profil sogar dauerhaft, mit der Begründung, Trump könne weiter zu Gewalt anstiften.

Böse Zungen behaupten, die Social-Media-Oligarchen hätten den Mut nur entwickelt, weil es nun politisch opportun war, sich mit den Demokraten gut zu stellen. Die fordern immer vehementer, aktiver gegen Desinformation und Hetze vorzugehen. Eine Idee, die immer wieder genannt wird: Sollte man die Haftungsprivilegien der sozialen Medien abschaffen und sie genauso behandeln wie klassische Medien?

In der Expertenwelt betrachtet man diese Forderung skeptisch. „Soziale Medien heißen zwar Medien“, sagt Tobias Gostomzyk, Medienrechtler an der TU Dortmund. Tatsächlich erbringen sie aber Vermittlungsdienstleistungen für die Inhalte Dritter.

Würde man die Section 230 abschaffen, zeichnen Forscher zwei Szenarien: Plattformen würden sich entweder in eine Rolle als reine Infrastruktur zurückziehen und ausschließlich offensichtlich strafbare Inhalte vom Netz nehmen. Oder sie würden aufgrund der schieren Menge an Inhalten – allein auf Youtube werden pro Minute 500 Stunden Videomaterial hochgeladen – Technologien einsetzen, die Inhalte vor dem Hochladen scannen. Im Zweifelsfall würde eher zu viel als zu wenig geblockt. Ein „abgesperrtes, langweiliges Internet“ wäre die Konsequenz, befürchtet Kosseff. Die Herausforderung ist deswegen, den Netzwerken eine Regulierung zu geben, die ihrer Zwitterfunktion zwischen Infrastruktur und Inhalteproduzent gerecht wird.

Hier ist die Bundesregierung bereits einen Schritt weiter als die USA. Die Plattformen genießen zwar auch hier Haftungsprivilegien. Anders als in den Staaten sind diese aber mit mehr Auflagen verbunden. Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz etwa regelt, dass soziale Netzwerke strafbare Inhalte vom Netz nehmen müssen, nachdem sie darauf aufmerksam gemacht wurden.

Zwar halten einige Experten auch das nicht für der Weisheit letzten Schluss. In Brüssel wird momentan jedoch mit dem „Digital Services Act“ an einer noch umfassenderen Regelung gearbeitet, die Plattformen unter anderem auch Transparenzpflichten vorschreiben würde.

EU-Kommissar Breton ist sich auf jeden Fall sicher, die Blaupause für eine Zeit nach dem Facebook-9/11 gefunden zu haben. Präsident Biden hat er bereits eingeladen, seiner Koalition der Willigen beizutreten.

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Erstellt:
22.01.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 19sec
zuletzt aktualisiert: 22.01.2021, 06:00 Uhr

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