Den Worten mehr Kraft geben

Expertinnen diskutierten in Tübingen das neue Sexualstrafrecht

„Nein heißt Nein“: Das gilt nun auch vor Gericht. Am Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen diskutierten Expertinnen das neue Sexualstrafrecht.

27.11.2017

Von Madeleine Wegner

Beim „Tresengespräch“: Moderatorin Käthe Hientz, die Gleichstellungsbeauftragte Luzia Köberlein, Staatsanwältin Edith Zug, die Präventionsbeauftragte der Polizei Martina Kaplan, Gastronomin Asli Küçük, Micha Schöller von AGIT sowie Dolmetscherin Birgit Astfalk (von links). Bild: Faden

Beim „Tresengespräch“: Moderatorin Käthe Hientz, die Gleichstellungsbeauftragte Luzia Köberlein, Staatsanwältin Edith Zug, die Präventionsbeauftragte der Polizei Martina Kaplan, Gastronomin Asli Küçük, Micha Schöller von AGIT sowie Dolmetscherin Birgit Astfalk (von links). Bild: Faden

Nein heißt Nein – auch daheim!“ Diese Forderung hallte vor zwei Jahren bei der Walpurgisnacht-Demonstration durch die nächtlichen Tübinger Straßen. Es war kurz nachdem eine junge Frau am Rande einer Party von mehreren Männern vergewaltigt worden war. Die Forderung der Demonstrantinnen verwies auf zwei Fakten: Sexualisierte Gewalt tritt vor allem hinter verschlossenen Türen und innerhalb von Beziehungen auf. Ein Übergriff durch Fremde oder gar durch eine Gruppe, das ist die Ausnahme. Und: Bislang hat ein „Nein“ nicht ausgereicht, um einen sexuellen Übergriff als solchen anzuzeigen. Das hat sich mit dem neuen Sexualstrafrecht, das im November vergangenen Jahres in Kraft trat, geändert.

Diese Änderungen sowie weitere Themen rund um Schutz und Sicherheit von Frauen in Tübingen diskutierten Expertinnen bei einem „Tresengespräch“ im „Bierkeller“ am vergangenen Samstag, dem Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen. Die Studentenkneipe war ein ebenso ungewöhnlicher wie passender Ort für diese Podiumsdiskussion mit Vertreterinnen von Stadt, Polizei, Justiz, Gastronomie und Beratung – ging es an diesem Abend doch auch ums Nachtleben. Zum „Tresengespräch“, organisiert von der städtischen Stabstelle Gleichstellung und Integration zusammen mit weiteren Tübinger Initiativen, waren insbesondere junge Frauen eingeladen. Käthe Hientz, in diversen Tübinger Frauennetzwerken aktiv, moderierte. Birgit Astfalk und Rita Mohlau übersetzten die Diskussion in Gebärdensprache. Die Kneipe war gut besucht, über 60 Interessierte kamen, darunter überwiegend Frauen unterschiedlichen Alters.

Kneipen und Clubs können ein sinnvoller Ort für Aufklärungsarbeit sein, machte die Tübinger Gastronomin Asli Küçük deutlich: „Die jungen Menschen erreichen wir als Gastrobetriebe eben recht leicht.“ Die Betreiberin des „Goldene Zeiten“ am Hauptbahnhof will jungen Leuten gegenüber das Thema sexualisierte Gewalt ansprechen und so ein Bewusstsein für die Problematik schaffen: „Vielleicht bekommen sie dann mehr Sicherheit, um Nein zu sagen, wenn es darauf ankommt.“

Und diesem „Nein“ kommt mit dem neuen Sexualstrafrecht eine neue Bedeutung zu, denn endlich gilt: „Nein heißt Nein.“ Bislang war Gewalt oder das Androhen von Gewalt juristisch zwingend an die Vergewaltigung geknüpft. Ebenfalls neu: Sexuelle Belästigung ist strafbar. „Das ist in der Praxis ein wichtiger Tatbestand“, sagte Staatsanwältin Edith Zug. „Vorher war das rechtlich kaum greifbar.“ Problematisch sei stets, die Tat nachzuweisen. Auch mit dem neuen Recht bleibe das so.

Micha Schöller von der Anlaufstelle sexualisierte Gewalt (AGIT), die täglich betroffene Frauen berät, hofft, dass die Gesetzesänderung auch zu einem „Paradigmenwechsel im Gerichtssaal“ führt. Dort mussten Frauen bislang erklären, ob und wie sie sich gegen die sexuellen Übergriffe gewehrt haben. Vielleicht einer von vielen Gründen, warum nur fünf bis zehn Prozent der Betroffenen eine Vergewaltigung anzeigen.

„Insbesondere bei unbekannten Tätern hoffen wir jedoch auf eine Anzeige – auch, um andere Frauen zu schützen“, sagte Martina Kaplan, die beim Polizeipräsidium Reutlingen das Referat Prävention leitet. Dabei sei es wichtig, den Erfolg nicht von einer Verurteilung abhängig zu machen. Häufig sei das Problem, dass Aussage gegen Aussage steht: „Dann muss ich schauen, ob ich genügend Beweismittel habe, um das Gericht zu überzeugen“, sagte Staatsanwältin Zug. „Spuren müssen schnell gesichert werden“, sagte deshalb Schöller. Dies sei in der Tübinger Uniklinik auch anonym möglich. Bei einem fremden Täter kann es für eine mögliche spätere Verhandlung wichtig sein, Verletzungen am eigenen Körper zu fotografieren und die entsprechende Kleidung nicht zu waschen. Bei sexualisierter Gewalt in der Beziehung sei es hingegen ratsam, nicht sofort die Polizei zu rufen, so Kaplan, sondern sich zuerst an eine Beratungsstelle zu wenden – auch, um eine Anzeige so gut wie möglich vorzubereiten.

Stadt und Netzwerke setzen vor allem auf Prävention. Neben der Sicherheitskampagne in Zusammenarbeit mit den Gastrobetrieben (wir berichteten) habe die Stadt beispielsweise einen Extra-Fördertopf aufgemacht, um die Präventionsarbeit an Schulen zu stärken, sagte die Gleichstellungs- und Integrationsbeauftragte Luzia Köberlein. Sie unterstütze außerdem diverse Fachstellen und Projekte zu diesem Thema. Hientz‘ Fazit des Abends war deshalb: „Es passiert etwas in Tübingen – und zwar ziemlich viel.“

Kriminaloberrätin Martina Kaplan zu sexuellen Übergriffen
© hz 03:38 min
Kriminaloberrätin Martina Kaplan, Leiterin des Präventionsreferats am Polizeipräsidium Reutlingen, zu sexuellen Übergriffen.

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Erstellt:
27.11.2017, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 02sec
zuletzt aktualisiert: 27.11.2017, 01:00 Uhr

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