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Studium: Ist der Numerus Clausus noch zeitgemäß?

Deutschland benötigt Fachkräfte überall: Arbeiter, Handwerker und Akademiker.Der Numerus Clausus aber ist ein Mittel der Verknappung von Fachkräften - aus Zeiten des Überangebots. Besonders deutlich wird dies bei Medizinern. Doch eine Lösung ist schwer, erklären die Universität Tübingen, die Landesregierung und das Bundesforschungsministerium.

14.03.2023

Von Gernot Stegert

Hier kommt nur rein, wer ein (zu gutes?) Abi hat: die neue Neue Aula der Tübinger Univerität. Bild: Ulrich Metz

Hier kommt nur rein, wer ein (zu gutes?) Abi hat: die neue Neue Aula der Tübinger Univerität. Bild: Ulrich Metz

Es wirkt absurd und ist es auch. Selbst Einser-Abiturienten können selten Medizin studieren. Wer „nur“ einen Notenschnitt von 1,2 oder schlechter hat, muss warten und warten und warten – oder etwas anderes machen. Jedes Jahr werden in Deutschland so 35 000 mögliche Ärzte und Ärztinnen schon am Studium gehindert. Auf 10 000 Studienplätze im Wintersemester 2021/22 kamen mehr als 45 000 Bewerber und Bewerberinnen.

Gleichzeitig fehlen jetzt schon Mediziner, nicht bloß auf dem Land. 2019 blieben deutschlandweit über 5200 Ärztestellen unbesetzt: 3280 Hausarzt- und 1933 Facharztstellen. 2016 waren es noch gut 2000. Die nächsten Jahre werden das Problem verstärken. Etwa 20 Prozent der Ärzteschaft wird bald altersbedingt ausscheiden. In einigen Fachgebieten sind die Quoten sogar noch höher. Zum Beispiel gehen 25 Prozent der Kinder- und Jugendärzte bis 2025 in den Ruhestand. Bis zum Jahr 2030 wird die Lage dramatisch. Dann nämlich sind die Babyboomer im Ruhestand. Das sind rund die Hälfte aller Mediziner. Gleichzeitig wächst das Bedürfnis nach Teilzeit in der Generation Z.

Bis zum Jahr 2030 müssten somit bis zu zwei Drittel der Mediziner ersetzt werden. Und weil allein das Studium sechs Jahre dauert, müssten all die Gebrauchten jetzt schon mit dem Studium anfangen. Doch drei von vier Willigen werden weiter durch den Numerus clausus ausgebremst. Wie wäre es also, das zu ändern? Die Debatte hat begonnen. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) spricht von 5000 notwendigen zusätzlichen Studienplätzen. Auf dem diesjährigen Deutschen Ärztetag wurde die Zahl 6000 genannt.

Die Universität Tübingen lässt die Pressestelle im Auftrag von Rektorin Prof. Karla Pollmann und Prof. Karin Amos, der Prorektorin für Studium und Lehre, erklären: Eine Aufhebung sämtlicher Numeri clausi würde kein Problem lösen, solange nicht die Kapazitäten ausgeweitet würden. Die werden auf Basis des Hochschulzulassungsgesetzes und der Kapazitätsverordnungen berechnet. Entsprechend sind die Ressourcen ausgerichtet. „Wollte man weitere Kapazitäten für Studienplätze bereitstellen, bräuchte es zusätzliches Personal, Laborplätze und so weiter, also entsprechende zusätzliche Mittel vom Land Baden-Württemberg. Dies gilt umso mehr bei kostspieligen Studienplätzen wie in der Medizin. Dies wäre also in erster Linie eine politische Entscheidung.“

Ein Sprecher des Bundesministeriums für Bildung und Forschung verweist auf die Zuständigkeit der Bundesländer „für die Schaffung zusätzlicher Studienplätze“. Bei Abschaffung des NC „müssten die Länder und Hochschulen die erforderlichen Ressourcen (Personal, Räume) bereitstellen“. In Humanmedizin sei die Lage besonders schwierig. Einerseits übersteige die Anzahl der Studienplatzbewerberinnen und -bewerber derzeit die Anzahl der Plätze um das Vierfache. Andererseits seien die Studienplätze besonders teuer.

Gleichwohl sei einiges geschehen, wie der Ministeriumssprecher betont: „Bund und Länder hatten 2007 den Hochschulpakt 2020 beschlossen, um sicherzustellen, dass auch in Zeiten hoher Studiennachfrage alle Studierwilligen ein qualitativ hochwertiges Hochschulstudium aufnehmen konnten. In den Jahren 2007 bis 2020 konnten dadurch 1,6 Millionen Studienanfängerinnen und -anfänger zusätzlich starten.“ Mit den 39 Milliarden Euro Bundes- und Landesmitteln des Hochschulpakts sei es gelungen, die Studienplatzkapazitäten so auszubauen, dass trotz der stark gestiegenen Studienanfängerzahlen nicht verstärkt deutschlandweite Zulassungsbeschränkungen nötig wurden.

Und mit dem Zukunftsvertrag Studium und Lehre würden seit 2021 dauerhaft die Qualität von Studium und Lehre an den Hochschulen erhöht und die Studienplatzkapazitäten gesichert werden. Hierfür stellen Bund und Länder jährlich jeweils rund zwei Milliarden Euro zusätzlich zur Grundfinanzierung der Hochschulen zur Verfügung. Am 4. November 2022 hätten Bund und Länder in der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz beschlossen, den finanziellen Rahmen des Zukunftsvertrags zu dynamisieren. Dadurch erhöhen Bund und Länder bereits ab diesem Jahr gemeinsam die Mittel Jahr für Jahr und stellen bis einschließlich 2027 zusammen zusätzlich 676 Millionen Euro bereit.

Zu Lehramtstudiengängen, die teilweise auch noch beschränkt werden, erklärte Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger: „Der Numerus clausus darf den Fachkräftemangel nicht verschärfen. Gerade bei Lehramtsfächern halte ich es für wichtiger, dass junge Menschen den Beruf mit dem Herzen ausfüllen. Entscheidend ist, dass die Länder mehr Studienplätze schaffen.“

Und was sagt das zuständige Land? Die neue Wissenschaftsministerin Petra Olschowski verweist auf bereits Getanes: „Das Land misst der Sicherung der medizinischen Versorgung in allen Regionen des Landes größte Bedeutung zu. Bereits im Jahr 2020 hat Baden-Württemberg die Anzahl der Medizin-Studienanfängerplätze an den Landesuniversitäten um 10 Prozent erhöht, um langfristig genug Ärztinnen und Ärzte auszubilden – dies entspricht einem Aufwuchs von 150 Studienanfängern jährlich.“ Für diesen Ausbau habe das Land 2021 vier Millionen Euro investiert, 2022 fast neun Millionen Euro, und im Endausbau sollen es jährlich 30 Millionen Euro zusätzlich sein. Im Ländervergleich engagiere sich Baden-Württemberg überdurchschnittlich. „Sollten weitere Bedarfe sichtbar werden, werden Gespräche mit dem Bund zu führen sein.“ Derzeit gebe es allerdings keine verlässlichen Prognosen, so Olschowski.

Die Ministerin gibt dabei die Kosten zu bedenken: „Ein Studienplatz in der Fächergruppe Humanmedizin kostet mehr als 220 000 Euro pro Studentin oder Student bei einer Regelstudienzeit von zwölf Semestern, hinzu kommen noch Investitionskosten, wie Labore, Seminarräume, Professuren.“ Angesichts der weiterhin sehr hohen Attraktivität des Medizinstudiums sei eine weitgehende Lockerung oder gar Aufgabe von Zugangsbeschränkungen unrealistisch. Das Statistische Bundesamt beziffert die Grundmittel pro Medizin-Studienplatz auf 30 000 Euro pro Jahr. Ein Studienplatz in Jura oder Sozialwissenschaften kostet 4500 Euro jährlich.

Olschowski gibt weiteres zu bedenken. Die Problematik einer Unter-, Über- und Fehlversorgung könne nicht nur durch mehr Studienplätze gelöst werden, habe der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen bereits 2018 in seinem Gutachten erklärt. Schon jetzt werde zudem keineswegs ausschließlich über Abiturnoten ausgewählt, sondern auch nach Berufsausbildung und Berufserfahrung. Und noch einen Aspekt nennt die Landesministerin: Auch die Arbeitsbedingungen müssten stimmen: „Viele Berufsanfängerinnen und -anfänger wollen anders arbeiten als vorherige Generationen.“ Es gebe einen Trend zur Team- und Teilzeitarbeit. Die Übernahme einer Einzelpraxis sei nicht mehr unbedingt erstrebenswert.

Uni Tübingen wirbt um junge Leute

Mangel gibt es auch ohne Numerus clausus. So bietet die Universität Tübingen viele zulassungsfreie Studiengänge an, in denen sich der demografische Wandel bemerkbar macht. Die Pressestelle teilte mit: Die Zahl der Bewerberinnen und Bewerber gehe langsam zurück, beispielsweise in Lehramtsstudiengängen. Die Universität steige deshalb verstärkt in das Marketing für Studiengänge ein, vor allem mit Blick auf internationale Studierende.