Russland

Es taut – wie Permafrostböden und Klimawandel zusammenhängen

Wladimir Putin ist besorgt. Und weil er es nicht gewohnt ist, Entscheidungen kollektiver Weisheit zu überlassen, ordnete er an, ab sofort im Norden seines riesigen Landes die Gebäude überwachen zu lassen.

10.08.2021

Von ANDRé BOCHOW

In den Weiten Sibriens taut der Boden. In tieferen Erdschichten gespeicherte Treibhausgase wie Kohlendioxid und Methan werden dadurch freigesetzt  mit unabsehbaren Folgen für das Klima. Foto: Irina Yarinskaya/afp

In den Weiten Sibriens taut der Boden. In tieferen Erdschichten gespeicherte Treibhausgase wie Kohlendioxid und Methan werden dadurch freigesetzt mit unabsehbaren Folgen für das Klima. Foto: Irina Yarinskaya/afp

Es geht allerdings nicht um Geheimdienstarbeit, sondern um Statik. „Dort leben Millionen von Menschen. Es ist deshalb wichtig, in diesen Gebieten ein Überwachungssystem aufzubauen“, sagte der Präsident Anfang des Monats. Der Grund für Putins Sorge ist die Erwärmung der Region und das damit verbundene Auftauen des Permafrostbodens.

„Die direkten Folgen können sehr gefährlich sein“, sagt Jan Nitzbon, Klimaforscher vom Alfred-Wegener-Institut in Potsdam. „Wenn das Eis im Boden schmilzt, sinkt er ab. Kommt dann noch ein Gefälle hinzu, sind Gebäude akut bedroht. Aber auch auf eher ebenem Gelände sind Häuser, Straßen, Pipelines und andere kritische Infrastruktur in Gefahr.“ Immer wieder versinken auf Pfählen stehende Gebäude in dem neuerdings matschigen Boden. Im Juni vergangenen Jahres kippte in Norilsk, nördlich des Polarkreises, ein gewaltiger Tank um. 17 500 Tonnen Dieselöl flossen in die Natur. Der Betreiber verwies auf den Untergrund, der den Tank nicht mehr gehalten habe. Was ihn allerdings nicht von der Verantwortung freispricht, die sich verändernden Bedingungen nicht beachtet zu haben.

Erdreich gibt Elfenbein frei

Eigentlich sind fast zwei Drittel der Fläche Russlands dauerhaft gefroren. Aber weil die Temperaturen dort deutlich schneller steigen als im globalen Durchschnitt, erfolgt ein gigantisches Auftauen dessen, was eigentlich wie ein Kühlschrank des Planeten wirkt.

Mitarbeiter von Transneft sind nach dem Unglück mit den Reinigungsarbeiten beschäftigt. Foto: Irina Yarinskaya/afp

Mitarbeiter von Transneft sind nach dem Unglück mit den Reinigungsarbeiten beschäftigt. Foto: Irina Yarinskaya/afp

Die unmittelbaren Folgen für die Menschen in den russischen Nordregionen sind differenziert. Neben einstürzenden Häusern, gefährdeten Pipelines und der Zerstörung der Lebensgrundlagen für nomadisierende Völker, gibt es auch andere Effekte. Beispielsweise gibt das aufweichende Erdreich Elfenbein von Millionen konservierter Mammuts frei. Elfenbein im Wert von bis zu 150 Milliarden Dollar soll noch im Permafrostboden liegen. Eine andere Wirkung ist die ständige Erweiterung landwirtschaftlicher Anbaugebiete. In den vergangenen vier Jahren hat Russland den Weizenexport um 100 Prozent auf 44 Millionen Tonnen gesteigert – mehr als die USA oder die EU exportiert haben. Russland könnte zur Kornkammer des Planeten werden.

Die globalen Auswirkungen der sich wandelnden Permafrostböden gehen aber weit über die Nahrungsmittelproduktion hinaus. Sie betreffen das Klima selbst. „Bislang wurden die Effekte, die vom Permafrostboden ausgehen, bei den Modellen des Weltklimarates nicht vollständig berücksichtigt“ sagt der Klimaforscher Jan Nitzbon. Unumstritten ist, dass die Böden des Nordens zunehmend Kohlendioxid ausstoßen und das zumindest kurzfristig noch verheerender in der Atmosphäre wirkende Methan. Letzeres wird von bislang im Erdreich gefrorenen Pflanzen freigesetzt. Grob gesagt, gibt das Erdreich in eher trockenen Gebieten des Nordens CO frei und feuchte, sumpfige Areale Methan. Auch in Kalkstein findet sich Methan und könnte freigesetzt werden, wenn die Erwärmung immer tiefere Schichten erreicht.

In Norilsk kippte auf dem aufgeweichten Boden ein Tank um. 17?500 Tonnen Dieselöl flossen aus. Foto: Handout/Marine Rescue Service/afp

In Norilsk kippte auf dem aufgeweichten Boden ein Tank um. 17?500 Tonnen Dieselöl flossen aus. Foto: Handout/Marine Rescue Service/afp

Unklar ist, wie schnell die Böden auftauen und auch wie genau sich die Prozesse im arktischen Raum auf das Klima auswirken. So taut der Boden in den südlicheren Regionen der Arktis vollständig auf, weiter nördlich erwärmt er sich erst einmal nur oder taut im Sommer teilweise. Insgesamt sinkt der Wasserspiegel, die Landoberfläche wird trockener, was eine isolierende Wirkung auf den Permafrostboden hat, allerdings auch Brände begünstigt.

In eisreichen Permafrostregionen, so der Potsdamer Klimaforscher Nitzbon, beobachtet man außerdem „abruptes Auftauen“, bei dem höhere Treibhausgasemissionen prognostiziert werden. Wie genau die jeweiligen Prozesse wirken, ist Gegenstand von Forschungen. Vorerst geht die Mehrheit der Wissenschaftler davon aus, dass das Schwinden der Permafrostböden mit 0,2 Grad Celsius bis zum Jahr 2100 zur Erderwärmung beitragen wird. Der Beitrag der Menschheit ist deutlich größer. Aber das, was die Böden freigeben, kommt noch hinzu, sagt Jan Nitzbon. „Und vor allem: Sind die Böden erst einmal aufgetaut, ist der Ausstoß von Treibhausgasen nicht mehr aufzuhalten.“ André Bochow

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Erstellt:
10.08.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 50sec
zuletzt aktualisiert: 10.08.2021, 06:00 Uhr

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