Zeitreise · Kirchentellinsfurt

Er galt als Deutschlands Autodieb Nummer 1

Der Kirchentellinsfurter Heinz M. hat 185 Autos gestohlen und sie als „Aufbauwagen“ an gutgläubige Kunden verkauft. Als die Polizei im Oktober 1962 bei ihm auftauchte, schoss er sich in die Brust.

08.10.2019

Von Manfred Hantke

Heinz M. wird im Dezember 1963 in den Gerichtssaal geführt.

Heinz M. wird im Dezember 1963 in den Gerichtssaal geführt.

Erst waren es zwei, dann drei, bald über 20. Nicht nur die Tübinger Polizei staunte. In Reih und Glied parkte sie Anfang Oktober 1962 auf ihrem Hof einen VW Käfer neben dem anderen. Fast alles 1200er, nahezu nagelneu. Der Platz ging aus, aber der Käfer-Nachschub nahm kein Ende. Die nächsten 1200er stellte die Polizei am Hechinger Freibad ab. Bei 54 hörte TAGBLATT-Fotograf Manfred Grohe auf zu zählen.

Sämtliche Autos waren gestohlen. Von Heinz M. aus Kirchentellinsfurt. Damals galt er als „Deutschlands Autodieb Nummer 1“. Insgesamt soll er 185 Autos, meist VW 1200er Standard und Export, aber auch den einen und anderen 1200er Cabrio, VW-Bus und Daimler, geklaut und verkauft haben. Die Käufer ahnten nichts. Der Fall war bis dahin ohne Beispiel in der deutschen Kriminalgeschichte.

Einen Zentner Dynamit im Keller


Auf die Spur kam die Polizei dem Autodieb in der Nacht auf Samstag, 15. September. Da stand sie an der Lustnauer „Adlerkreuzung“ (Wilhelmstraße/Bebenhäuser Straße): Routine-Kontrolle. Doch der aus Bebenhausen sich nähernde VW Käfer drehte plötzlich um, fuhr in hohem Tempo davon. Den Fahrer fanden die Beamten nicht, wohl aber das Auto. Es stand im Wald im Kirnbachtal.

Rasch stellte sich heraus, dass der VW in Stuttgart gestohlen wurde. Da sich der Autodieb ins Kirnbachtal flüchtete, schlossen die Polizisten, er kenne sich aus und müsse aus der Gegend kommen. Wie kommt aber einer nach Stuttgart, der mit einem geklauten Auto zurückkommt? Das frug sich die Polizei und erkundigte sich bei Taxifahrern, erhielt den Hinweis auf den Kirchentellinsfurter. Fortan beschattete sie den Mann, informierte sich über dessen Kunden. Weil darunter auch Polizisten waren, baten die Fahnder sie, ihren VW zur Begutachtung vorzuführen. Die Ahnung wurde zur Gewissheit: Alle waren geklaut.

Der 1930 geborene Heinz M. wuchs in Lustnau auf, ging in die Tübinger Silcherschule und machte sich nach mehreren erfolglosen Versuchen, beruflich Fuß zu fassen, 1957 als Automechaniker ohne abgeschlossene Ausbildung in Kirchentellinsfurt selbstständig. Fünf Jahre lang betrieb er die Autowerkstatt am Eck Bahnhofstraße / Einhornstraße (im Haus steht heute ein Geldautomat der Kreissparkasse), bis Kriminalbeamte in zivil dem 32-Jährigen am Mittwochnachmittag, 3. Oktober 1962, einen Besuch abstatteten.

Eine „normale Kontrolle“ sei es, so die Beamten zu Heinz M., als er die Werkstatttür öffnete. Den anscheinend scharfen Schäferhund solle er aber bitte aus der Werkstatt bringen. Das tat er, führte den Hund in den „Ölkeller“, wie er sagte. Plötzlich ein Schuss. Heinz M. hatte sich aus einer Schublade einen Revolver geholt und sich in die Brust geschossen.

Bei der Durchsuchung fand die Polizei einen Zentner Dynamit mit allem, was für eine Sprengung nötig ist. Den Sprengstoff hatte er sieben Jahre zuvor aus einem Steinbruch in Nagold geklaut. Damit wollte er die Werkstatt in die Luft jagen, falls er mal ertappt werden sollte, vermutete die Polizei.

Heinz M. lag zunächst in der Chirurgischen Klinik in Tübingen, wurde später auf den Hohenasperg verlegt. Dort unternahm er weitere Suizidversuche. Ein Ausbruch mit anderen Zellengenossen scheiterte: M. war für die schmale Öffnung zu dick: „1,81 Meter hoch“, so das TAGBLATT damals, „Schultern eines Möbelpackers und Hände wie Schraubzwingen“.

Die geänderte Motornummer fiel dem TÜV damals nicht auf.

Die geänderte Motornummer fiel dem TÜV damals nicht auf.

Den ersten VW stahl Heinz M. noch vor 1957 in Reutlingen auf dem Marktplatz vor der Polizeiwache. Im zweiten Käfer, den der damals Arbeitslose eher aus Verlegenheit klaute, weil er heim nach Tübingen wollte, fand er eine Anklageschrift gegen einen Autodieb in München. Dort war detailliert beschrieben, wie gestohlene Autos weitergereicht werden können.

Mit Schraubenzieher und Draht


So machte sich Heinz M. 1957 selbstständig, die „Geschäftsidee“ kopierte er: „Es ging ganz schnell“, sagte er vor Gericht. Zu Beginn hatte er nur einen Schraubenzieher und ein Stück Draht dabei, später knackte er das Lenkradschloss mit der Rohrzange. 1960/61 erfuhr er durch eine Fernsehsendung, wie es noch einfacher geht.

„Aufbauwagen“ nannte Heinz M. die Autos gegenüber seinen gutgläubigen Kunden. Angeblich waren es Unfallautos und Autos mit Transportschäden, die er scheinbar in einer Böblinger Werkstatt herrichten ließ. Doch in seiner eigenen änderte er nur Motor- und Fahrzeugnummer, das war’s. Bald nahm er sogar Kunden-Bestellungen an – etwa einen VW 1200 Export mit einer bestimmten Farbe, mit Falt- oder Schiebedach.

Er lieferte „billig und gut“



Bevorzugt stahl Heinz M. neuwertige Autos mit selten mehr als 3000 Kilometer in Stuttgarts Halbhöhenlage. Einen Besitzer hat er gar zweimal innerhalb eines halben Jahres beklaut. Verkauft hat er nach Kirchentellinsfurt, Tübingen, Balingen und Hechingen, zum Teil über unwissende Mittelsmänner.

Der Automechaniker lieferte „billig und gut“, schrieb das TAGBLATT, nahm zwischen 3000 und 4000 Mark (zum Vergleich: 1962 kostete ein neuer VW 1200 Export 4980 Mark, einen Cabrio 1200 gab’s für 6230 Mark). M. machte „einen Sonderpreis“, mahnte den Kunden aber, es nicht weiterzusagen. Die beste Aufforderung also, es doch zu tun. So ging der Mechaniker wieder zur Nachtschicht.

54 gestohlene Autos standen am Hechinger Freibad. Archivbilder: Manfred Grohe

54 gestohlene Autos standen am Hechinger Freibad. Archivbilder: Manfred Grohe

Ins Visier der Polizei geriet auch die Ehefrau. Sie soll hin und wieder die Autos zurückgeholt haben, mit denen er auf Diebestour ging. Sie selbst fuhr einen gestohlenen Ghia. Auch der im selben Haus wohnende Vater wurde verhaftet. Ihm wurde Mitwisserschaft vorgeworfen, auch soll er den Dynamit-Klau unterstützt haben.

Auch ein TÜV-Prüfer geriet in Verdacht, er hatte die meisten Gutachten für die Kfz-Briefe ausgestellt: Fortgesetzte schwere Hehlerei, Falschbeurkundung, Beihilfe zum Betrug und schwere passive Bestechung, so die Anklage. Pro Woche hat er einen Wagen abgenommen, manchmal drei, hatte sogar Gutachten zu Autos ausgestellt, die Heinz M. erst später stahl. Den Widerspruch konnte er vor Gericht nicht vollständig entkräften. Stutzig sei er schon geworden, sagte er, und habe Belege über die vielen Austauschrahmen verlangt. Die legte Heinz M. vor – sie waren gefälscht.

Beim Auto-Serienklau richtete Heinz M. einen Schaden von rund 700 000 Mark an. Rechnet man nur 3000 Mark pro verkauftes Auto, müsste er etwa 540 000 Mark eingenommen haben. Wo das Geld geblieben ist, war ein Rätsel. Sichtbar war nur ein 15 Ar großes Wochenendgrundstück zwischen Tübingen und Unterjesingen. Von den wenigen tausend Mark, die von der Polizei sichergestellt wurden, erhielten die Käufer eine zehnprozentige Entschädigung.

Die meisten Autokunden haben ihr Auto zurückgekauft, haben es ein zweites Mal bezahlt. Rund 50 Geschädigte verklagten später den TÜV auf Schadensersatz. Doch nicht der TÜV sei zuständig, so das Gericht, sondern das Land, es hat dem TÜV die Hoheitsrechte eingeräumt. Die Hechinger Zivilkammer verurteilte 1969 das Land zum Schadensersatz. Die beklauten Erst-Besitzer hingegen hatten ihren Schaden von der Versicherung ersetzt bekommen.

Der Autodieb musste für sieben Jahre ins Zuchthaus

Nach fünf Verhandlungstagen vor der VII. Großen Strafkammer des Stuttgarter Landgerichts sprach der Richter am 13. Dezember 1963 das Urteil. Wegen schweren Diebstahls (Sprengstoff), Verbrechen gegen das Sprengstoffgesetz, Diebstahl der Autos (16 Diebstähle waren verjährt) , Urkundenfälschung und Betrugs sowie Bestechung wurde Heinz M. zu sieben Jahren Zuchthaus einem fünfjährigen Berufsverbot und Führerscheinentzug verurteilt. Den 62-jährigen Vater verurteilte das Gericht wegen Beihilfe zum Sprengstoffverbrechen und Sachhehlerei zu sieben Monaten Gefängnis, ausgesetzt auf drei Jahre zur Bewährung. Die 33-jährige Ehefrau von Heinz M. war wegen Hehlerei und fortgesetzter Begünstigung angeklagt. Sie erhielt eine Gefängnisstrafe von vier Monaten, auf zwei Jahre zur Bewährung. Den TÜV-Prüfer, der für die meisten gestohlenen Autos die Gutachten ausgestellt hatte, sprach das Gericht frei. Er habe zwar bei der Abnahme der „Aufbauwagen“ grob fahrlässig gehandelt, aber ein Vorsatz oder bedingter Vorsatz war ihm nicht nachzuweisen. Zwei andere Prüfer und auch das Kraftfahrzeugbundesamt in Flensburg hätten auch nichts gemerkt.


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