Zeichen von Gedächtnisverlust

An die jüdischen Opfer der Pogromnacht erinnerten am Freitag in Tübingen fünf Veranstaltungen

Die Uni untersagte der Aktion Sühnezeichen das Gedenken auf dem Geschwister-Scholl-Platz.

09.11.2018

Von Manfred Hantke

David Holinstat von der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg blickte in der Stiftskirche eher skeptisch in die Zukunft. Bild: Klaus Franke

David Holinstat von der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg blickte in der Stiftskirche eher skeptisch in die Zukunft. Bild: Klaus Franke

Ein vorbildliches Programm ist das, was die Tübinger Stadtgesellschaft zum 80. Jahrestag der Pogromnacht organisiert hat. Sämtliche Initiativen, die sich inhaltlich mit der NS-Zeit auseinandersetzen, erinnern unterschiedlich an die Diskriminierung, Ausgrenzung, Vertreibung und Ermordung der Tübinger Juden. Allein am gestrigen 9. November konnten die Tübinger fünf Gedenkveranstaltungen besuchen.

„Wir sind das Volk“ klingt wie 1938

Gleich um 10 Uhr postierten sich die Aktion Sühnezeichen sowie Mitglieder vom AK Kritische Juristen auf dem Gehweg vor der Neuen Aula. Sie erinnerten mit großformatigen Fotos und einem Transparent daran, dass „auch die Bildungselite“ am Holocaust und dessen Vorbereitung beteiligt war, wie Hans Probst von der Aktion Sühnezeichen sagte.

Der Geschwister-Scholl-Platz war in der NS-Zeit Aufmarschplatz, der große Saal in der Neuen Aula begehrter Festsaal. Auch eine ganze Reihe der Uni-Dozenten hatte sich auf allen Ebenen in den Dienst des NS gestellt. Doch der Platz selbst war für die etwa 40 Aktivisten und Passanten gestern tabu, die Uni habe das Gedenken dort untersagt, so Probst. „Sehr ärgerlich“, so eine Passantin, „blamabel“, eine andere.

Etwa 200 Leute kamen dann um 11 Uhr in die Stiftskirche. Organisiert hatte die Gedenkveranstaltung die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen. Neben der Erinnerung (siehe unten) sollte auch der Blick in die Zukunft gewagt werden. David Holinstat von der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg ist da skeptisch. Die Erinnerungskultur sei eher abstrakt, sagte er, viele hätten sich darin behaglich eingerichtet. Aber nur wenig Deutsche bringen den Nationalsozialismus mit sich und der eigenen Familie in Zusammenhang. Holinstat forderte auf, sich mit der eigenen Vergangenheit konkret auseinanderzusetzen.

„Das Recht“ und „auch die Pflicht“ auf „ein Sein“, das nach der vor 70 Jahren verabschiedeten Menschenrechtserklärung jedem zusteht, sieht Holinstat – nach „vielen Jahrhunderten Unterdrückung und dem Holocaust“ – für die Juden abermals in Gefahr. Der Ruf von 1989 „Wir sind das Volk“ klinge heute ganz anders. Holinstat: „Das klingt wie 1938“, als die Juden nicht dazugehört haben, „obwohl wir uns als Deutsche verstanden haben“.

Die Aktion Sühnezeichen vor der Neuen Aula. Bild: Manfred Hantke

Die Aktion Sühnezeichen vor der Neuen Aula. Bild: Manfred Hantke

Schritt für Schritt wurden die Juden aus der Gemeinschaft ausgeschlossen – „in einem perfiden System der Entmenschlichung“. Ernüchterung macht sich bei Holinstat breit, wenn er das laute Grölen hört, die unbegrenzte Verbreitung von Hass und Hetze erlebt und wenn eine „Partei mit faschistischer Prägung“ demokratisch legalisiert wird.

Das gegenwärtige Erinnern sei nur selektiv, so Holinstat, er sieht „zu viele Zeichen eines Gedächtnisverlustes“. Ja, schlimmer noch: Das Erinnern wird verdreht bis zur totalen Lüge – individuell und kollektiv. „Nur, wenn wir sicher sein können, dass aus einer zerbröckelnden Erinnerung keine Wiederholung wird“, dann sei dies – schloss Holinstat – „eine wirkliche Gedenkstunde“.

Aufstehen und sich positionieren

Dazu wollen auch die Schülerinnen und Schüler des Kepler-Gymnasiums ihren Teil beitragen, wie sie in kurzen Redebeiträgen begründeten. So wollen sie sich für eine Welt einsetzen, in der die Menschen sozial gleich und frei sind, deren Verschiedenheit anerkannt wird, in der aber auch rechtliche Mittel ausgeschöpft und Straftaten verfolgt werden, in der mehr Kontakte und unbefangener Austausch zwischen den Gruppen ermöglicht wird.

„Aufstehen und sich klar gegen Antisemitismus positionieren“ sowie „noch stärker“ gegen „unangebrachte Witze und Kommentare“ vorgehen – auch das steht auf der Agenda der Schüler. Anschließend verlasen Geschwister-Scholl-Schüler in Kooperation mit der Stolperstein-Initiative auf dem Holzmarkt die Biografien der jüdischen Opfer-Familien Oppenheim und Schäfer, die dort ein Kleidungsgeschäft hatten, von den Nazis vertrieben oder umgebracht wurden.

Auch die Stadt lud zum Gedenken ein, etwa 70 Interessierte kamen. Im Ratssaal begrüßten Kulturamtsleiterin Dagmar Waizenegger und Erster Bürgermeister Cord Soehlke vier Familien aus den USA und Israel, Nachfahren der jüdischen Familien Wochenmark und Bernheim. Jeffrey Marque, Enkel von Josef Wochenmark, lobte zwar die Aufarbeitung in Deutschland, mahnte aber auch die Jungen, die Alten noch intensiver zu befragen.

Zum Abschluss des Gedenktages gab es auf dem Platz der einstigen Synagoge in der Gartenstraße die erste Sabbat-Feier seit 80 Jahren – mit eigens dafür gebackenem Brot. Zelebriert wurde sie von Elliot Ginsburgh, Ehemann von Linda Doctor, einer Tochter der Bernheims. 100 Teilnehmer feierten mit. Zuvor hatten Jugendguides der Geschichtswerkstatt die Namen der 21 ermordeten Tübinger Juden verlesen.

Was in der Nacht zum 10. November in Tübingen geschah

Das Attentatdes in Hannover geborenen Juden Herschel Grynszpan auf den deutschen Diplomaten Ernst von Rath am 7. November 1938 in Paris nahmen die Nationalsozialisten zum Vorwand, die zuvor bereits diskriminierten und entrechteten deutschen Juden zu verfolgen und zu vernichten. Die Pogrome vom 9./10. November 1938 markierten eine neue Qualität. Die Diskriminierung schlug in Verfolgung um. Es war „der Auftakt zum Holocaust“, so Stiftskirchenpfarrerin Susanne Wolf. Um Mitternacht drangen acht (vermutlich SA-) Männer in die Synagoge in der Gartenstraße 33 ein, verwüsteten sie, stahlen Kultgegenstände und warfen sie in den Neckar. Weit nach Mitternacht kam NSDAP-Kreisleiter Hans Rauschnabel mit drei seiner Parteifreunde, die dann die Synagoge anzündeten. Die Wehr hatte die Anweisung, nur die Nachbargebäude zu schützen. Am nächsten Morgen wurden Juden zu Hause abgeholt und ins KZ Dachau gebracht. Im Dezember kamen sie frei, unter der Bedingung auszuwandern – unverzüglich.

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Erstellt:
09.11.2018, 21:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 38sec
zuletzt aktualisiert: 09.11.2018, 21:00 Uhr

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