Tübingen · Paläontologie

Sensationsbeweis: Erster Fußgänger war Schwabe

Die Tübinger Forscherin Madelaine Böhme stellt die Entwicklungsgeschichte des Menschen vom Kopf auf ziemlich lang bezehte Füße.

06.11.2019

Von Mario Beisswenger

Madelaine Böhme präsentierte gestern den Danuvius guggenmosi, genannt Udo. Bild: Ulrich Metz

Madelaine Böhme präsentierte gestern den Danuvius guggenmosi, genannt Udo. Bild: Ulrich Metz

Prof. Madelaine Böhme hat keine Scheu, sich vor den Medienleuten zum Affen zu machen. Sie stellte sich am Mittwochvormittag in der Tübinger Geologie hin, um zu zeigen, wie sich schon kleine Kinder einen Affen vorstellen: o-beinig, leicht nach vorne gebeugt, abgespreizte Arme. Die von ihr und Mitarbeitern gefundene neue Menschenaffen-Art dagegen konnte entspannt aufrecht stehen.

„Das ist so wie bei uns“, fasst sie ihre im Detail vorgetragenen Erkenntnisse zusammen. Dazu kommt, dass der Fund auf ein Alter von 11,62 Millionen datiert ist. Er ist damit der älteste Beleg für aufrechte Fortbewegung bei Menschenvorfahren und weit älter als alles bisher. Spuren-Hinweise auf einen aufrechten Gang gibt es bislang aus der Zeit vor etwa sechs Millionen Jahren von Kreta. Der aufrechte Gang ist damit eine, wenn nicht württembergische, so doch schwäbische Erfindung.

Der passende Fund

Böhme kann sich auf fossile Knochen von Fuß, Bein und Wirbelsäule stützen – eine große Ausnahme bei Funden von Menschenvorläufern, von denen sonst oft nur Teile des Schädels oder der Zähne bekannt sind. 21 mehr oder weniger große Skelett-Bruchstücke aus einer zwischen Bad Wörishofen und Kaufbeuren gelegenen Tongrube fügen sich zu einem Individuum zusammen, das die Arbeitsgruppe „Udo“ taufte. An Wirbelknochen, dem Knie- und Sprunggelenk fanden die Forscher überzeugende Belege für die Bipedie, den sicheren Gang auf zwei Beinen. Dass die Fachwelt die durch eine internationale Kooperation abgesicherten Befunde akzeptiert, zeigt der gestern veröffentlichte Beitrag im renommierten Wissenschaftsorgan „Nature“.

Mit dem Fund stellt Böhme die Vorstellung von der Entwicklung zum Menschen auf den Kopf. Es gab keine Linie vom Vierfüßer-Gang zur Bipedie. Es ist gerade umgekehrt: Erst hatten die Menschenaffen den aufrechten Gang entwickelt, dann haben sie wohl mehrfach sich wieder verstärkt aufs Klettern und die Fortbewegung auf vier Beinen eingestellt. „So könnte ein Schuh draus werden“, und fügte hinzu, dass sich die Einschätzung schon über die letzten 20 Jahren angedeutet habe. Nur den passenden Fund gibt es erst jetzt.

15.000 Wirbeltierknochen

Dabei wäre das Material beinahe weggebaggert worden. Die Fundstelle in einer kommerziellen Grube zum Tonabbau ist schon seit den frühen 1970ern bekannt. Der Hobby-Archäologe Sigulf Guggenmos (daher der Art-Name) berichtete über eine reiche Fundstelle. Allerdings bekam Böhme, die in Tübingen eine Professur für Klimaarchäologie bekleidet, nur wenig Mittel für die seit 2011 laufenden Grabungen. Dabei entdeckte 2015 Jochen Fuß, der bei Böhme promoviert, den Oberkiefer von Udo. Fuß erkannte schnell, dass es sich um den Rest eines Menschenaffen handelte. „Wir haben damals aber noch nicht absehen können, dass wir noch mehr finden.“

Schwarz sind die Abgüsse der Fossilienfunde, weiß die Ergänzungen. Wer die Knochen versteht, kann an ihnen den aufrechten Gang ablesen: Die zwei Wirbelknochen unter dem Schädel zeigen eine S-förmig geschwungene Wirbelsäule an. Am Unterschenkel ist ein menschenähnliches Kniegelenk, mit dem sich gut senkrecht stehen lässt. Der lange große Zeh, von dem die Forscher den schwarzen, mittleren Teil fanden (unten rechts), zeigt den Kletterer: damit lässt sich gut greifen. Der lange Unterarm ist auch gut für die Fortbewegung im Geäst. Bild: Ulrich Metz

Schwarz sind die Abgüsse der Fossilienfunde, weiß die Ergänzungen. Wer die Knochen versteht, kann an ihnen den aufrechten Gang ablesen: Die zwei Wirbelknochen unter dem Schädel zeigen eine S-förmig geschwungene Wirbelsäule an. Am Unterschenkel ist ein menschenähnliches Kniegelenk, mit dem sich gut senkrecht stehen lässt. Der lange große Zeh, von dem die Forscher den schwarzen, mittleren Teil fanden (unten rechts), zeigt den Kletterer: damit lässt sich gut greifen. Der lange Unterarm ist auch gut für die Fortbewegung im Geäst. Bild: Ulrich Metz

Für 2016 organisierte Böhme dann eine Grabung ohne großes Budget mit Freiwilligen. Mehr als 15 000 Wirbeltierknochen bargen die mit archäologischen Methoden vorgehenden Gräber bisher. Darunter waren auch so kleine Sensationen wie der weltweit älteste Große Panda. Am 17. Mai 2016 machten sie den entscheidenden Fund. Das erklärt den Kosenamen. Udo Lindenberg hatte 70. Geburtstag, seine Lieder liefen den ganzen Tag im Radio.

Der Name zeigt, dass die Forscher sich der Bedeutung des Fundes sehr bewusst sind. Bislang bekam nur Lucy, benannt nach einem Beatles-Song, so eine Zuschreibung. Dieses gut erhaltene Skelett aus der menschlichen Ahnenlinie aus Äthiopien zeigt ebenfalls Merkmale des aufrechten Gangs. Aber es ist nur rund 3,2 Millionen Jahre alt. Udo bringt die Theorie vollends zum Einsturz, dass sich der aufrechte Gang in Afrika entwickelte.

Obenrum Affe, untenrum Vormensch

Wobei Böhme auch klar die Merkmale herausstellt, die belegen, dass Udo viel in Bäumen geklettert ist. Dazu zählen die langen Arme und sein extralanger großer Zeh. Mit den Füßen konnte Danuvius sehr gut greifen. Der Fuß zum schnellen Laufen, wie beim Menschen, ist erst runde zwei Millionen Jahre alt.

Prof. Madeleine Böhme präsentiert den Danuvius guggenmosi, benannt nach Udo Lindenberg. Bild: Ulrich Metz

Prof. Madeleine Böhme präsentiert den Danuvius guggenmosi, benannt nach Udo Lindenberg. Bild: Ulrich Metz

Etwas flapsig ausgedrückt sei Udo obenrum wie ein Affe, untenrum wie ein Vormensch, fasst die Mitgründerin des Senckenbergzentrums für Human-Evolution und Paläoumwelt an der Uni zusammen. Beim Platz, dem sie Udo in der menschlichen Ahnenreihe zuweist, ist sie vorsichtig. Es gebe Hinweise, dass sich in dem langen Zeitraum zwischen 7 und 13 Millionen Jahren die direkten Menschenvorfahren von ihren Affenverwandten nur langsam trennten. Danuvius guggenmosi könnte ein direkter Vorfahr sein, einer aus der Stammlinie von Mensch und Schimpanse oder gemeinsamer Urahn von allen afrikanischen Menschenaffen, also Gorillas inklusive.

Das Buch zum Fund, der Film zum Buch

Schon 2017 machte Prof. Madelaine Böhme mit einem Menschenaffen-Fund aus Griechenland Furore. Den aufrecht gehenden Danuvius guggenmosi begleitet sie nun medial. Ein Film über die Fundgeschichte von Florian Breier ist demnächst auf Arte und im SWR zu sehen. Zusammen mit ihm und dem Wissenschaftsjournalisten Rüdiger Braun hat sie „Wie wir Menschen wurden“ geschrieben, in dem sie die Ursprünge der Menschheit nachzeichnen.

Im Buch räumt Böhme ihren Funden den gebührenden Platz ein, auch indem sie die abenteuerlichen Umstände erzählt, wie sie in ihre Hände kamen. Außerdem geben die Autoren einen aktuellen, leicht zu lesenden Überblick über die Vorgeschichte der Menschen. Es ist beim Heyne Verlag erschienen, 300 Seiten, 22 Euro.