Ein Hauch von Nichts

Elisabeth Seitz vom MTV Stuttgart trauert knapp verpasster Medaille nach

Schöne und traurige Geschichten haben bei Olympia oft eine Verbindung: den Unterschied von Bronze und Platz vier. Wie bei den deutschen Turnerinnen.

16.08.2016

Von WOLFGANG SCHEERER

Nur um 0,033 Punkte an der Bronzemedaille vorbei geturnt: Elisabeth Seitz im Stufenbarren-Finale. Foto: Imago

Nur um 0,033 Punkte an der Bronzemedaille vorbei geturnt: Elisabeth Seitz im Stufenbarren-Finale. Foto: Imago

Rio de Janeiro. „Es ist ein Hauch von Nichts, das macht alles nur noch ein bisschen enttäuschender“, sagte die große Verliererin. So fühlte sie sich jedenfalls. Denn dieser Hauch, 33 Hundertstelpunkte im olympischen Stufenbarren-Finale, er war es, der Sophie Scheder glücklich und Elisabeth Seitz so traurig machte. Die Chemnitzerin Scheder lag bereits auf Rang drei, als Elisabeth Seitz vom MTV Stuttgart als letzte der insgesamt acht besten Kunstturnerinnen an die Reihe kam. Damit war klar: Bronze ist einer der beiden Deutschen sicher, aber Seitz würde Scheder noch auf Rang vier verdrängen können, wenn alles nach Wunsch liefe an ihrem Paradegerät.

Scheder (19) hatte 15,566 Zähler vorgelegt und konnte kaum mehr hinsehen, als die um drei Jahre ältere Teamkollegin an die Stangen ging, um ebenfalls eine Übung mit Flugteilen der Marke „Höchstschwierigkeit“ zu zeigen. Doch dann: Beim Paksalto spreizte Elisabeth Seitz die Beine ein wenig zu sehr, sie musste kurz improvisieren, ein ungeplantes Verbindungselement turnen und ahnte da vielleicht schon, dass es nicht ganz reichen würde.

15,533 lautete die Wertung. „Ich bin viertbeste der Welt am Stufenbarren, damit sollte ich eigentlich zufrieden sein. Aber ich brauche wohl noch ein paar Tage, um das zu realisieren“, sagte sie und musste die Tränen zurückhalten. Ihre Mutter Claudia und ihr elfjähriger Bruder Gabriel werden in Rio sicher ein wenig zur Aufheiterung beitragen müssen. Alle zusammen fliegen sie am 22. August zurück, dem Tag nach der Abschlussfeier.

„Für Elisabeth ist es natürlich traurig, weil sie diesen kleinen Fehler gemacht hat. Aber sie wollte alles riskieren“, sagte Cheftrainerin Ulla Koch, die lieber auf die Medaille blickte: „Bronze ist so gigantisch, wenn ich bedenke, dass wir mit optimalen Übungen in der Quali auf Platz fünf und sechs lagen. Ich bin dankbar, dass wir so tolle Mädels im Team haben, die sich einen so starken Fight geliefert haben. Sophie hat Elisabeth sogar noch angefeuert. Wir haben es mit Glück geschafft.“

Möglich wurde die Medaille auch deshalb, weil die hoch gehandelte Russin Daria Spiridonowa abrutschte, vom Gerät musste und starke Abzüge bekam. Gold ging mit 15,900 Zählern an Titelverteidigerin Aliya Mustafina aus Russland, Silber mit 15,833 an Weltmeisterin Madison Kocian aus den USA. Für die deutschen Turnerinnen war es die erste olympische Medaille am Stufenbarren seit 28 Jahren.

Doch trotz aller Glücksmomente: „Scheiße! Jetzt ist Elli nur Vierte“, entfuhr es der hin- und hergerissenen Sophie Scheder. Kaum waren die Freudentränen weggewischt, versuchte sie, die Teamkollegin zu trösten: „Ich habe ihr das Gleiche gewünscht wie mir, weil ich genau weiß, was sie geleistet hat und was ich geleistet habe.“ Am Ende freilich war sie der Erfahreneren und bisher Erfolgreicheren wieder einen Tick voraus – wie schon im Juni, als Scheder Seitz den deutschen Mehrkampf-Titel abknöpfte. „Elli muss sich auch verzeihen lernen. Ich kann nur sagen: Respekt. Ich bin stolz auf meine Mädels“, sagte die Chefbundestrainerin. Doch Elisabeth Seitz war anzusehen, wie sehr sie nach all dem harten Training für Olympia dieser Bronzemedaille nachtrauerte, die sie fast schon fühlen konnte, aber nun am Hals von Sophie Scheder hängen sah.