„Kriegserklärung an die Polizei“

Einzelne Delikte nehmen zu, insgesamt aber bessere Sicherheitslage in Kreis und Stadt Tübingen

Die Zahl der Sexualdelikte und die Angriffe auf Polizisten haben laut polizeilicher Kriminalstatistik zugenommen, insgesamt hat sich aber die Sicherheitslage im Landkreis und in der Stadt Tübingen verbessert.

27.04.2018

Von Lisa Maria Sporrer

Der Fall sorgte für überregionales Aufsehen: Vor knapp einem Jahr versuchte ein 37-jähriger, nach eigenen Angaben syrischer Flüchtling auf dem Radweg von Tübingen nach Hirschau eine Zehnjährige sexuell zu nötigen. Zwei zu Hilfe eilende Zeugen konnten Schlimmeres verhindern. Der Mann wurde festgenommen und ein Messer sichergestellt. Der Fall zeigt exemplarisch, womit sich die Polizei in der Region schwerpunktmäßig beschäftigen muss: Sexualdelikte, tatverdächtige Asylbewerber und Gewaltkriminalität.

„Generell sind Messerattacken ein Phänomen, das uns zunehmend Sorgen bereitet“, sagte Polizeipräsident Prof. Alexander Pick. 102 Straftaten wurden mit dem „Tatmittel Messer“ im Landkreis Tübingen im vergangenen Jahr verübt. Zum Vergleich: 2015 waren es 69, 2016 griffen die Täter 81-mal zum Messer. Aber nicht nur als Angriffswaffe werde das Messer benutzt. Einige führen es mit, um sich im Zweifelsfall wehren zu können. Je unsicherer die Menschen sind, desto größer sei das Bedürfnis, sich selber verteidigen zu können. Erst kürzlich hatte OB Boris Palmer aus seiner umstrittenen Sicherheitsumfrage den Schluss gezogen, dass sich die gefühlte Sicherheitslage entscheidend verschlechtert habe.

Manchmal Deutscher Meister

Die tatsächliche Sicherheitslage scheint aber einem anderem Trend zu folgen: Am Donnerstag stellte das Polizeipräsidium Reutlingen den jährlich erscheinenden Kriminalitätsbericht vor. Und der führte auf: Die Kriminalität im Landkreis Tübingen geht zurück. Mit insgesamt 9352 Straftaten 2017 sei ein leichter Rückgang von 0,8 Prozent im Vergleich zum Vorjahr (9427) zu verzeichnen. Die Aufklärungsquote erhöhte sich dagegen deutlich um 4,5 Prozent von 55,8 Prozent (2016) auf 60,3. Von den insgesamt 9317 verübten Straftaten konnte die Polizei 5635 Fälle aufklären. Das sei der zweithöchste Wert in den letzten zehn Jahren, so Pick, der betonte, dass die Kriminalitätsrate im gesamten Bereich des Polizeipräsidiums Reutlingen mit 4542 Straftaten pro 100 000 Einwohner deutlich unter dem landesweiten Durchschnitt liege (5295). „Wir belegen hier immer einen Champions-League-Platz, manchmal sind wir sogar Deutscher Meister. Wir leben in einer der sichersten Regionen Deutschlands. Das korreliert nicht immer mit dem Sicherheitsgefühl.“

Während im Landkreis Wohnungseinbrüche, Diebstahl und Straßenkriminalität zurückgehen, ist eine deutliche Zunahme bei Sexualdelikten zu verzeichnen. Besonders in der Stadt Tübingen spielen sexuelle Übergriffe in der öffentlichen Diskussion eine herausragende Rolle, sagte Pick. Die schweren Delikte wie Vergewaltigung (2017: 8 Fälle, 2016: 12) und sexuelle Nötigung (2017: 2 Fälle, 2016: 10) gehen zwar zurück; dafür nehmen sexueller Missbrauch (2017: 50 Fälle, 2016: 26) und exhibitionistische Handlungen (2017: 42 Fälle, 2016: 16) überhand.

Seit der Strafrechtsreform im vergangenen Jahr tauchen im diesjährigen Kriminalitätsbericht erstmals die Delikte „sexuelle Belästigung“ und „sexuelle Übergriffe“ auf. „Dabei handelt es sich um Spielformen wie begrapschen, jemandem einen Kuss aufnötigen oder anzügliche Bemerkungen“, erklärte Pick. Bisher seien solche Handlungen strafrechtlich als Beleidigung erfasst worden. Insgesamt 51 Fälle beider Delikte tauchen für die Stadt Tübingen in der aktuellen Statistik auf. Landkreisweit sind es 74. „Die wirklich schweren Fälle, jene, die der Bevölkerung Angst machen, haben abgenommen“, so Pick. Die statistische Zunahme bei den Sexualstraftaten sei auf die neu eingeführten Straftatbestände zurückzuführen.

Bei dem Thema „Kriminalität durch Flüchtlinge“ ist die Polizei in ihrem Bericht sehr ausführlich. „Wir sind der Auffassung, dass wir in der Pflicht stehen, für ein differenziertes, ausgewogenes und rationales Bild zu sorgen“, sagte Pick „mit Blick auf manche Stammtischszenarien“. Auf insgesamt 18 Seiten wertet das Polizeipräsidium Reutlingen die Fallzahlen aus, unterscheidet zwischen „nichtdeutschen Tatverdächtigen“ und Flüchtlingen und listet die tatverdächtigen Flüchtlinge nach Staatsangehörigkeiten auf. Im Landkreis Tübingen wurden 2017 insgesamt 378 tatverdächtige Flüchtlinge ermittelt. Im Jahr 2016 spricht die Polizei mit insgesamt 443 Tatverdächtigen von einem Höchststand. Zwar bedeute die aktuelle Zahl einen Rückgang um 14,7 Prozent zum Vorjahr; insgesamt aber hat sich die Tatverdächtigenzahl von 2013 bis 2017 fast vervierfacht.

Den 378 Tatverdächtigen im Landkreis Tübingen wurden im letzten Jahr 604 Straftaten vorgeworfen: 209 Diebstähle, 155 Körperverletzungen, 52 Betrugsdelikte, 32 Rauschgiftdelikte, 24 Bedrohungen, 23 Beleidigungen, 22 Sachbeschädigungen, 19 Urkundenfälschungen und 17 sexuell bestimmte Straftaten. Von den 42 exhibitionistischen Handlungen, die in der Stadt Tübingen besonders im Innenstadtbereich auftraten, wurden 15 aufgeklärt und 14 Tatverdächtige ermittelt. Von diesen 14 waren zwei Flüchtlinge.

Von den 41 Fällen der sexuellen Belästigung hat der Tübinger „Schrittgrapscher“ bereits 16 Taten eingeräumt, sagte Bürgerreferent Björn Reusch auf Nachfrage des TAGBLATTs. 15 der zugegebenen Taten sind bereits in die Statistik von 2017 eingerechnet, ein Fall in 2018. Dieser Serientäter macht also bereits 36,6 Prozent der der 41 Fälle aus.

So wurden im Landkreis Tübingen insgesamt fünf Personen als Mehrfachtäter im Bereich der Flüchtlinge geführt. Zu bedenken sei auch, dass lediglich ein Sechstel der Fälle (98 von 604) in den Asylunterkünften begangen werden. Das sei ein deutlich geringerer Anteil als im übrigen Zuständigkeitsbereich: im Landkreis Esslingen über ein Drittel, im Landkreis Reutlingen knapp ein Viertel.

Die statistische Kriminalitätsentwicklung verlief in den drei Landkreisen unterschiedlich, jedoch insgesamt erfreulich. Die Opferzahlen allerdings nahmen um 7,4 Prozent zu (von 8924 im Jahr 2016 auf 9606 im Jahr 2017). Der Anstieg sei durch die Anstiege in den Bereichen Sexualdelikte, Körperverletzung, Nötigung und Widerstand gegen Polizisten zu erklären.

Im Krisenmodus

Immer öfter komme es auch zu Gewalt gegen Polizeibeamte. In diesem Bereich war ein Anstieg um knapp 7 Prozent auf 324 Straftaten (2016: 320) zu verzeichnen. „Wir hatten im letzten Jahr 157 verletzte Beamte“, sagte Pick. Aufgenommen werde nur, was strafrechtlich relevant sei. Die ganzen Beleidigungen seien dabei nicht aufgeführt. „Das ist ein deutliches Zeichen, dass sich die staatlichen Autoritäten im Krisenmodus befinden.“

In einer früheren Version des Artikels standen zwei Zitate des Reutlinger Polizeipräsidenten Alexander Pick in einem falschen Zusammenhang. Der Satz „Die richtig dicken Fische haben wir im Jahr 2017 aber nicht gefangen“ bezog sich auf die regionalen Unterschiede bei der Aufklärungsquote und den Fallzahlen bei Einbrüchen zwischen den Landkreisen Esslingen und Reutlingen und Tübingen. Im Artikel konnte der Eindruck entstehen, es ginge um Sexualstraftaten durch Flüchtlinge. Die Sätze „Wir nehmen das persönlich“ und „Wir werten das als Kriegserklärung an uns“ bezogen sich nicht auf die zunehmende Gewalt gegen Polizeibeamte, sondern auf die Masche krimineller Betrüger, sich als Polizisten auszugeben, und so das Vertrauen der Bevölkerung in die Behörden auszunutzen und gleichzeitig zu untergraben. Wir haben die Fehler korrigiert.

Straftaten und Aufklärungsquoten in den Kommunen

Tübingen: Erfasste Straftaten 2017: 4640 (2016: 4908). Die Aufklärungsquote liegt bei 56,0 %

Rottenburg: 2063 (2028), 66,5 %

Kirchentellinsfurt: 220 (204), 58,2 %

Neustetten: 131 (70), 76,3 %

Bodelshausen: 207 (181), 65,2 %

Mössingen: 711 (712), 67,6 %

Ammerbuch: 371 (407), 49,9 %

Dußlingen: 173 (113), 62,4 %

Ofterdingen: 134 (143), 73,9 %

Starzach: 109 (79), 64,2 %

Hirrlingen: 64 (57), 64,1 %

Nehren: 89 (96), 59,6 %

Dettenhausen: 114 (95), 60,5 %

Gomaringen: 180 (195), 67,2 %

Kusterdingen: 146 (134), 52,1 %