Tübingen

Französische Filmtage: „Eine super Chance, etwas Neues auszuprobieren“

In einer Woche beginnt das traditionsreiche Festival – in einer noch nie dagewesenen Version: Es werden kaum Gäste nach Tübingen kommen, die Anzahl der Plätze ist stark begrenzt, dafür gibt es Debatten und viele Filme auch online.

20.10.2020

Von Madeleine Wegner

Vor dem Bildschirm räkeln (wie hier auf vorangegangenen Filmtagen) kann man sich diesmal ganz ungeniert. Fast alle Filme sind während des Festivals auch per Stream auch online verfügbar. Wer kein Kino-Ticket mehr bekommt, kann also bequem vom Sofa aus schauen. Archivbild: Ulrich Metz

Vor dem Bildschirm räkeln (wie hier auf vorangegangenen Filmtagen) kann man sich diesmal ganz ungeniert. Fast alle Filme sind während des Festivals auch per Stream auch online verfügbar. Wer kein Kino-Ticket mehr bekommt, kann also bequem vom Sofa aus schauen. Archivbild: Ulrich Metz

Solch eine Version von Tübingens traditionsreichstem Filmfestival gab es noch nie: wenige Plätze in den Kinosälen, kaum Gäste, die zum Festival anreisen werden, dafür ein reichhaltiges Online-Programm. Es ist vermutlich das Beste, was das Filmteam rund um Festivalleiter Christopher Buchholz aus der aktuellen und zudem ungewissen Lage machen konnte.

Das Programm hält 83 Filme aus der gesamten Frankophonie bereit, darunter 30 Kurzfilme: Das sind insgesamt etwa 20 Filme weniger als in den Vorjahren. Doch dieses abgespeckte Programm bildet die Crème de la Crème: „Wir haben genauso viele Filme wie in den Vorjahren gesichtet – die ausgewählten Filme im Programm sind also die allerbesten“, verspricht Christopher Buchholz, der gemeinsam mit Programm-Manager Hasan Ugur und Afrika-Expertin Bärbel Mauch das Programm zusammengestellt hat.

„Die zusätzliche Online-Version ist enorm wichtig für uns“, sagt Ugur angesichts der schwer vorhersehbaren Entwicklungen und Corona-Regelungen. Für fast alle Festival-Filme wird es auch einen Online-Stream geben (siehe Kasten). Die wenigen Filme, die ausschließlich im Kino zu sehen sind, werden dort umso häufiger gezeigt. Festivalleiter Buchholz sieht in der hybriden Version des Festivals trotz allen Verzichts auch Vorteile: „Das ist eine super Chance, etwas Neues auszuprobieren.“

Ein gravierender Nachteil schneidet direkt ins Herz des Festivals: Es werden kaum Gäste nach Tübingen kommen. Die Drehbuchautorin Catherine Courel-Locicero, der Historiker und Filmkritiker Sylvain Garel und der Filmkritiker Thierry Méranger bilden die Internationale Jury. Alle drei wollen es sich nicht nehmen lassen und unbedingt für das Festival in die Universitätsstadt reisen – mit aktuellem Coronatest, versteht sich. Für alle anderen Gäste gilt: Ihr Besuch wurde bereits abgesagt, oder es werden allenfalls kurzfristig doch noch vereinzelt Gäste kommen.

Auf Diskussionen und Gespräche mit Filmschaffenden will das Festival jedoch nicht verzichten. Zu Themen wie der Meinungsbildung durch Influencer oder auch zu Alltagsrassismus wird es Online-Konferenzen geben, in die sich Besucher einklinken dürfen. Außerdem werden Filmemacher persönliche Botschaften per Video einschicken, die auf der Homepage des Festivals (siehe „Info“) abrufbar sein sollen.

Kein Festival ohne Wettbewerbe: Die Internationale Jury wird den besten Kurzfilm (1000 Euro) sowie den besten Nachwuchsfilm (5000 Euro) küren. Die Preise stiftet wieder die Familie Lamm von den Vereinigten Lichtspielen, die ebenso den mit 1000 Euro dotierten Preis der Jugendjury unterstützt. 21.000 Euro erhält der deutsche Verleih des Films, der die Herzen des Publikums für sich gewinnt.

Mit der traditionellen Eröffnungsfeier fällt am Mittwoch, 28. Oktober im großen Saal des Kino Museum der Startschuss für die 37. Französischen Filmtage. Zum ersten Mal wird es an diesem Abend eine Live-Übertragung der Feier in alle Kinosäle geben – in die beiden anderen Säle des Museums, ins Atelier, ins Reutlinger Kamino und ins Rottenburger Waldhorn. Im Anschluss wird überall der Eröffnungsfilm „Effacer l’historique“ („Die Digital Naiven – Das Internet vergisst (dich) nie“). Ein Spielfilm über die digitalen Spuren, die wir im weltweiten Netz hinterlassen. Das ist in einer Zeit, in der sich das Leben geradezu zwangsweise ins Internet verlagert, brandaktuell.

Die beiden Regisseure Gustave Kerverne und Benoît Delépine genießen in Frankreich einen regelrechten Kultstatus. 2006 waren sie schon einmal bei den Filmtagen zu Gast und haben mit ihrem charmant-provokanten Auftreten für Wirbel gesorgt. In diesem Jahr wären sie gern erneut nach Tübingen gekommen. Wenigstens für die Zukunft haben Kerverne und Delépine bereits versichert: Mit ihrem neuen Film werden sie gewiss kommen.

Dem Duo ist auch die diesjährige Retrospektive gewidmet, in der herrlich durchgeknallte Filme zu sehen sein werden wie „Le Grand Soir“ – über ein ungleiches Brüderpaar, das sich mit anarchischem Eigensinn den Weg in die Freiheit bahnt – oder auch das melancholische Roadmovie „Mammuth“ mit Gérard Depardieu als ruheloser Metzger in Rente.

Der diesjährige Schwerpunkt liegt auf den Ländern Afrikas. Zusätzlich zur etablierten Reihe „Fokus Afrika“ ausschließlich mit Filmen afrikanischer Filmemacher, finden dadurch Spiel- und Dokumentarfilme europäischer Regisseure ihren Platz im Programm.

Die Hommage gilt in diesem Jahr zwei verstorbenen Film-Größen. Das schwarz-weiß gefilmte Kleinod „Cléo de 5 à 7“ aus dem Jahr 1961, das feinfühlig beobachtend zwei Stunden im Leben einer sensiblen, jungen Sängerin einfängt, erinnert an Agnès Varda. Die Pionierin des Autorenkinos prägte die Nouvelle Vague, sie ist im Jahr 2019 im Alter von 90 Jahren gestorben. In „Milou en mai“ (1990) spielt der im Mai verstorbene Michel Piccoli die Hauptrolle. In seiner Gesellschaftskomödie lässt Louis Malle den Generalstreik im Mai 1968 in der südfranzösischen Provinz aufleben.

Mit dem Abschlussfilm „Le regard de Charles“ ehrt das Filmfestival noch eine dritte Ikone Frankreichs und zollt dem großen Aznavour Respekt. Mit einer Super 8-Kamera filmte der berühmte Chansonnier zahlreiche seiner Lebensstationen. Für die Aufnahmen erteilte Aznavour kurz vor seinem Tod die Veröffentlichungserlaubnis. Der Dokumentarfilm ermöglicht so – durch die Augen Aznavours selbst – einen Blick auf ein außergewöhnliches Leben.

Tickets für das bundesweite Online-Festival

Der Zugang zu einem ausgewählten Film kostet4,50 Euro. Er gilt ab Start des Films für 30 Stunden. Auf dem Sofa vor dem Bildschirm dürfen natürlich dann auch Freunde oder Familie mitschauen. Für dieses Einzelticket ist die Zahlung nur per Kreditkarte möglich. Anders ist es beim Sechserblock (22 Euro): Dieses Multiticket kann man auch per Überweisung oder Paypal kaufen. Es empfiehlt sich, auch die Online-Filme rechtzeitig zu reservieren, da die Zuschauerzahl begrenzt ist. Reservierungen sind ab heute möglich auf der Homepage der Filmtage. del