Interview zu Krawallen

„Eine nachvollziehbare Explosion“

Der Jugendforscher Klaus Hurrelmann spricht über die Gründe der Stuttgarter Krawalle, Männlichkeitsvorstellungen und den abschreckenden Effekt von Strafen.

17.06.2021

Von MICHAEL SCHEIFELE

Fordert Bildung und Sport für Jugendliche: Klaus Hurrelmann Foto: Privat

Fordert Bildung und Sport für Jugendliche: Klaus Hurrelmann Foto: Privat

Stuttgart. Mehrere hundert Jugendliche und junge Erwachsene plünderten Geschäfte, warfen Flaschen und griffen Polizisten an: Die Stuttgarter Krawallnacht jährt sich am 20. Juni das erste Mal. Vor wenigen Wochen hat es wieder Ausschreitungen gegeben, diesmal in abgeschwächter Form. Wie kann so etwas passieren und gibt es Grund zur Sorge? Die SÜDWEST PRESSE hat den Jugendforscher Klaus Hurrelmann gefragt.

Herr Hurrelmann, was geht ihnen durch den Kopf, wenn Sie die Bilder der Stuttgarter Ausschreitungen sehen?

So etwas ist selten in Deutschland. Besonders Stuttgart ist eine Stadt, die sich so etwas nicht vorstellen konnte. Deshalb ist es verständlich, dass die Vorkommnisse viel Irritation auslösen. Schaut man allerdings ein zweites Mal hin, dann ist es für junge Leute, vor allem für junge Männer, gar nicht ungewöhnlich, dass sie aufbegehren, wenn sie das Gefühl haben, in ihren Rechten beschnitten zu werden, und den Eindruck haben, dass die Polizei sie dabei einschränkt, sich selbst zu entfalten.

Diese Rebellion gehört zum Jugendalter grundsätzlich dazu und ist ein Verhaltensmuster, das wir schon immer kannten. Auch dass die Polizei in einer angespannten Situation angegriffen wird, ist etwas, was im Bereich des Normalen liegt.

Sind die Stuttgarter Krawalle ein Grund zur Beunruhigung?

Sie sind ein Warnsignal. Sie zeugen davon, dass es einen Teil der jungen Leute gibt, der das Gefühl hat, am Rand der Gesellschaft zu stehen. Das sind wahrscheinlich besonders die sozial Benachteiligten. Es zeigte sich, dass sie am Ende ihrer Contenance sind und sich den Regeln, die ihnen gesetzt werden, nicht mehr unterwerfen wollen. Die Geschehnisse sind eine Mahnung, weil deutlich wird, dass diese Gruppe sich nicht richtig eingebunden fühlt, den Eindruck hat, nicht überall dazuzugehören, nicht gehört zu werden, und den Verdacht hegt, gegängelt zu werden.

Nach mehr als 60 Urteilen in der Sache vor dem Amtsgericht Stuttgart konnten die Juristen keine plausible Erklärung erkennen, warum es zu den Krawallen kam. Wie erklären Sie sich die Gewalt?

Wie immer gibt es nicht einen einzigen Grund. Eine wichtige Rolle spielen aber sicherlich die Corona-Einschränkungen mit dieser wahnsinnigen Einengung des Alltagslebens. Ein zweiter Grund ist die Blockade dessen, was viele junge Männer als typisch männlich verstehen: sich zeigen, entfalten und nach draußen kehren, dass man ein körperlich starkes und dominantes Geschlecht ist. Ein veraltetes Männermuster, aber es ist bei vielen jungen Männern stark verbreitet.

Und dann spielt die konkrete Situation mit hinein: Die Gruppe schaukelt sich gegenseitig hoch, auch mit Alkohol, und erfährt dann einen Angriff von außen durch die Polizei. Die restlichen Kontrollmechanismen, die noch da sind, werden dann völlig außer Kraft gesetzt. Das reicht, um den Deckel hochzupumpen und das Fass zum Überlaufen zu bringen. Insofern ist es eine nachvollziehbare Explosion gewesen.

Gibt es weitere Auffälligkeiten?

Ein großer Anteil der jüngst beteiligten jungen Männer kommt aus Familien, die eingewandert sind. Per se ist der Migrationshintergrund kein Erklärungsfaktor, sondern einige soziale Aspekte, die mit der Migrationsgeschichte zusammenhängen. Es ist das Gefühl, nicht richtig anerkannt zu sein, keinen festen Platz zu haben und im Bildungssystem nicht gut abgeschnitten zu haben.

Auch das Männlichkeitsmodell folgt etwa bei Familien aus dem arabischen und türkischen Raum häufig einem anderen Muster. Das ist noch klischeehafter als bei den Einheimischen. Sich nicht angenommen zu fühlen, ist für die männliche Mentalität unerträglich. Das halten einige nicht aus, weil sie mit der Erzählung groß geworden sind, dass sie als Mann derjenige sind, der alles zu bestimmen hat und der die dominante Rolle unter den Geschlechtern spielt. Die anderen Punkte, die ich ansprach, können sich so noch potenzieren.

Welche Auswirkungen hat die Pandemie auf junge Menschen in Bezug auf die Krawalle?

Es fehlte ihnen lange die Möglichkeit, einfach mal rauszugehen, sich mit Freunden zu treffen und in einer Ecke zu sein, in der sie niemand sieht und kontrollieren kann. Es fehlte ihnen, unter sich zu sein, selbst zu bestimmen, was sie machen möchten. Dazu gehört auch, Freude daran zu haben, vielleicht mal etwas zu tun, was gesellschaftlich nicht voll akzeptiert ist. Das ist typisch für das Jugendalter.

Außerdem ist der Sport weggefallen. Das ist für Jugendliche eine Katastrophe, denn irgendwo muss die Energie hin. Jugendliche nur einzukerkern und dann auch noch in Corona-Zeiten solch eine Perspektivlosigkeit und einen Kontrollverlust damit zu verbinden – das ist soziales Gift für die Entwicklung.

In den 1950er-Jahren gab es die so genannten „Halbstarken-Krawalle“, bei denen hunderte Jugendliche randalierend um die Häuser zogen. Gibt es Parallelen zu den jüngeren Ausschreitungen?

In Deutschland kann man es am ehesten damit vergleichen, denn das waren auch spontane Ausbrüche. In Ländern wie Frankreich oder Großbritannien gab es in jüngster Zeit Aktivitäten, die ähnlich gewalttätig waren.

Häufig werden hohe Strafen gefordert, um Jugendliche abzuschrecken. Funktioniert das?

Das trifft leider in den seltensten Fällen zu. In vielen Situationen, in denen Straftaten begangen werden, spielt es keine Rolle, ob man dafür bestraft wird, sondern die situative Konstellation ist entscheidend. Am Ende geht's darum, welche Angebote sozial stark benachteiligten jungen Männern gemacht werden. Es rächt sich, wenn wir das nicht tun.

Die Täter stehen nur für einen insgesamt sehr viel größeren Kreis junger Männer, die sich benachteiligt fühlen, häufig keine gute soziale Integration haben und beruflich perspektivlos sind. Wo bleibt mal eine Initiative, die ihnen, wenn sie ohne Lehrstelle sein sollten, ein Überbrückungsangebot macht? Wer bietet Ihnen zusätzliche Unterstützung im Bildungsbereich? Was ist mit sportlichen Freizeitangeboten, damit sie sich ausagieren können? So etwas wäre jetzt ganz entscheidend.

Stuttgart nach der Krawallnacht vom 20. Juni 2020: Menschen vor einem geplünderten Geschäft in der Marienstraße. Foto: Julian Rettig/dpa

Stuttgart nach der Krawallnacht vom 20. Juni 2020: Menschen vor einem geplünderten Geschäft in der Marienstraße. Foto: Julian Rettig/dpa