Tübingen · Künstler in der Krise

Eine „gefährliche Chance“

Fast alle Einnahmen weg - und was nun? Über Einbußen, Chancen und die persönliche Wahrnehmung dieser Ausnahmesituation.

25.03.2020

Von Peter Ertle

Auch das gab es einmal - und wäre heute undenkbar: Trommeln unter Anleitung von Helge Rosenbaum im Mössinger Freibad. Archivbild Uli Rippmann

Auch das gab es einmal - und wäre heute undenkbar: Trommeln unter Anleitung von Helge Rosenbaum im Mössinger Freibad. Archivbild Uli Rippmann

Die Corona-Krise trifft die Kulturbranche hart. Wir werden in den nächsten Wochen immer wieder Menschen aus dem künstlerischen, kulturpädagogischen, kreativen Sektor zu Wort kommen lassen. Heute: Helge Rosenbaum, Leiter einer Tübinger Trommelschule und Teamtrommel-Dozent für Firmen.

Herr Rosenbaum, was bedeutet Corona für Sie im Momentan finanziell?

Die Einnahmequellen meiner Familie und Konsequenzen durch Corona: Bei den Teamdrumming-Events wurden alle Aufträge abgesagt. Die Yogaschule meiner Frau ist geschlossen. Die Trommelschule Tübingen – ist ebenfalls geschlossen. Die Workshops sind abgesagt. Uns droht der Totalausfall von Einnahmen.

Wie sehen Sie die Chancen, an
angekündigte finanzielle Hilfen
zu kommen? Und wann wird das
Ihrer Meinung nach sein?

Darüber kursieren unterschiedliche Informationen. Kredite kommen nicht in Frage, da sie die Insolvenz nur verschleppen. Ob Soforthilfen ( nach meiner Information 9000 Euro für die nächsten drei Monate würden schon helfen) für uns greifen, da wir
über Online-Angebote immerhin noch etwas Geld verdienen, weiß ich nicht. Die Hilfe, egal ob sie für uns gilt oder nicht, muss schnell kommen.

Gibt es solidarische Maßnahmen in der Szene? Oder von Seiten des Publikums, zum Beispiel durch Verzicht auf Rückerstattung bereits bezahlten Unterrichts oder Seminare?

Momentan sind die Schüler der Yoga- und Trommelschule solidarisch, verstehen die Härtesituation für Menschen, die mit Menschen arbeiten und damit ihr Geld verdienen, indem sie die monatlichen Beiträge weiterzahlen. Sie bekommen dafür Videos, die wir täglich produzieren und online stellen. Ab kommender Woche wird dies auch per Live-Stream möglich sein. Dies sichert uns momentan Einnahmen, die aber unseren Lebensunterhalt und finanzielle Verpflichtungen nicht decken. Bereich Event: Zwei Unternehmen haben angeboten, mir 50 Prozent meines Honorars zu zahlen, die restlichen 50 Prozent, wenn nach Corona ein neuer Event-Termin gefunden wird.

Gibt es Nachlässe von Vermietern, Stadtwerken?

Unser Vermieter hat schon signalisiert, uns zu helfen. Das Finanzamt stuft meine Vorauszahlungen runter. Nächste Woche führe ich ein Gespräch bezüglich Steuerstundungen. Die Allianz als privater Rentenversicherer stundet meine Beiträge für sechs Monate ohne Konsequenzen. Die Krankenkasse stuft mich wegen Gewinneinbruchs in den Beiträgen zurück. Viele Kollegen bieten ihre Hilfe an, indem sie Dienstleistungen umsonst anbieten.

Wie schätzen Sie die Auswirkung der Krise für die Situation der freien Künstler und kleinen Institutionen ein, als vorübergehendes Tief oder als dauerhaften Kahlschlag?

Das sieht im Moment nicht gut aus. Alles hängt davon ab, wie schnell, in welcher Form und welcher Höhe Mittel zur Verfügung gestellt werden. Insgesamt sehe ich hier die Chance des Begreifens einer Gesellschaft, dass Kulturschaffende bisher sehr stiefmütterlich behandelt wurden, obwohl sie für den gesellschaftlichen Kitt gesorgt haben.

Was ist jetzt dringend nötig?

Unkomplizierte, unbürokratische Hilfe, Solidarität von allen für alle.

Der in Mössingen lebende Diplom-Instrumentalpädagoge Helge Rosenbaum macht Schüler und Unternehmensmitarbeiter über die Kunst des Trommelns mit den Tugenden der Improvisation vertraut.Archivbild: Erich Sommer

Der in Mössingen lebende Diplom-Instrumentalpädagoge Helge Rosenbaum macht Schüler und Unternehmensmitarbeiter über die Kunst des Trommelns mit den Tugenden der Improvisation vertraut.Archivbild: Erich Sommer

Unter welchen Aspekten könnte man aus dieser Situation für die Zukunft sogar profitieren?

Ich persönlich sehe in all dem phantastische Möglichkeiten für jeden einzelnen von uns, für unsere Gesellschaft und die gesamte Welt. Natürlich gibt es immer die Möglichkeit, dass alles auseinander bricht und wir ins totale Chaos rutschen, aber ich bin Optimist. „Krise“ bedeutet eigentlich „gefährliche Chance“. Und so nehme ich es. Sehr praktische Auswirkung schon jetzt: Deutschland, das bisher digital eher verschlafen war, bekommt gerade einen enormen Arschtritt: Alle gehen plötzlich mit ihrem Ding online.
Allein das wird uns nach Corona enorm helfen.

Wie geht es Ihnen überhaupt so
dieser Tage? Deprimiert der Zustand nur – oder inspiriert er auch?

Siehe vorherige Antwort: Mir und meiner Familie geht es sehr gut. Trotz drohenden wirtschaftlichen Totalverlusts. Wir lernen dieser Tage unwahrscheinlich viel, sind inspiriert und kommen – auch wenn das sehr abgelutscht klingt, egal – zur BeSINNung.