Schmotziger Dausteg in Rottenburg

Eine Stadt im Ausnahmezustand

Der „Schmotzige“ ist in Rottenburg ein Feiertag, am Vormittag für die (von der Schule befreiten) Schülerinnen und Schüler, am Nachmittag für alle „Raudeburger“. Am Abend übernimmt die Rottenburger Narrenzunft das Zepter.

09.02.2018

Von Ulrich Eisele

Wer sich am Fasnets-Donnerstag, dem so genannten „Schmotzigen Dausteg“, zufällig aus Tübingen nach Rottenburg verirrt, kann es vermutlich kaum fassen: Straßen voll verkleideter Menschen, Glühweinbecher oder Bierflaschen in der Hand, bunt geschminkte Kinder, Budenzauber, Bratwürste, Lebkuchenherzen, Karussell ... Stadt im Ausnahmezustand: Ämter und Geschäfte überwiegend geschlossen, wo geöffnet ist, werden Kunden von bunt geschminkten Mitarbeiterinnen mit Sekt oder Schokolade empfangen. Der „Schmotzige“ ist in Rottenburg ein Feiertag, „business as usual“ beinahe unmöglich. Und das Rathaus, die Stadtverwaltung – allen voran Oberbürgermeister Stephan Neher – surft mittlerweile an die Spitze der Welle.

Die schwappte gestern Morgen zuerst in Gestalt der Schülerbefreiung über den Marktplatz, die im zweiten Jahr von der Abteilung Jugend der Stadtverwaltung und der Narrenzunft Rottenburg gestaltet wurde. Auf der Bühne vor dem Rathaus steht an diesem kalten, grauen Morgen Jugendhausleiter Sven Klose am Mischpult, um 300 bis 400 Schülerinnen und Schülern mit wummernden Beats einzuheizen. Die Stimmung: lauwarm. Zwei junge Altstadtteufel, Stefano und Jeremy, bemängeln die Musikauswahl: „Fasnetsschlager“ solle der DJ spielen. Das sehen ein paar geschminkte Mädchen, die ihre Handys zücken, vermutlich anders.

Stadt und Narrenzunft haben einen Wettbewerb für die beste Darbietung auf der Bühne ausgelobt. Fünf Gruppen stellen sich an diesem Morgen zur Schau: Breakdancer aus dem Jugendhaus, zwei Frauentanz- und zwei Schülergruppen. Die beste Show liefert unbestritten Klasse 9c des St. Meinrad-Gymnasiums mit einer Rotkäppchen-Persiflage, bei der Lehrer im Hintergrund den Wald mimen. 13 Rotkäppchen tanzen auf der Bühne mit Wölfen, aus dem Gewehr des Jägers kommt zum Schluss goldenes Konfetti. Bravo, erster Preis: ein Ausflug mit der ganzen Klasse zum Europapark nach Rust.

OB Stephan Neher immer vorne dran. Er und seine zwei Mit-Bürgermeister stecken diesmal in Gärtnerkluft, tragen Strohhüte mit Sonnenblumen und auf dem Rücken die Inschrift: „Ich glaube, hier blüht uns was!“ – dezenter Hinweis auf die Bewerbung Rottenburgs zur Landesgartenschau – 2028! Neher sagt an, feuert an, singt mit, manchmal auch vor, erzählt Witze. Jenen, dass weder die Deutschlehrerin noch der Schulleiter noch die Kultusministerin etwas von Heinrich von Kleists Lustspiel „Der zerbrochne Krug“ gehört haben, verstehen die Schülerinnen und Schüler nicht – weil das heute nicht mehr zum Pflichtstoff gehört.

A propos Schulleiter: Hintersinn beweist EBG-Rektor Andreas Greis mit einem Arztkittel, an dessen Rückseite Sprüche wie „Greise für Gerontokratie“, „Dr. Greis liquidiert privat“ oder „Gegen die sachgrundlose Schulzeitbefreiung – für G9“ hängen. Er ist an diesem Morgen nicht der einzige Lehrer auf dem Marktplatz. Und auch das Schul-, Kultur- und Sportamt der Stadtverwaltung ist stark vertreten.

Nachmittags kommt die Sonne raus, in der Stadt die bekannte Stimmung: Ältere stehen auf dem Marktplatz zusammen, trinken, essen, halten ein Schwätzchen. Für die Drei- bis Siebenjährigen ist das Karussell die Hauptattraktion. Gruppen von Jugendlichen cruisen durch die Stadt, den obligatorischen Blechbecher an einer Kette am Gürtel. „Holzkrug“ und „Falken“ haben ein Zelt vor ihren Gasträumen aufgebaut. Von drinnen klingt laute Partymusik. Manchmal schwappt eine (Alkohol-)Dunstwolke nach draußen.

„Keine besonderen Vorkommnisse“ meldet Rottenburgs Revierleiter Hans-Peter Tausch am frühen Abend: ein paar stark alkoholisierte Jugendliche, ein, zwei Drogenfunde, „nichts Hartes“ – wesentlich weniger als in den vergangenen Jahren, findet er. Und am Deichelweiher, früher Brennpunkt für Alkoholexzesse, war heuer gar nichts los. „Das Konzept, die Leute auf den Marktplatz zu holen, ist aufgegangen“, sagt Tausch.

Im Foyer des Rathauses steppt derweil der Bär: Verkleidete Menge, überwiegend Rathaus-Mitarbeiter, stehen so dicht, dass Umfallen kaum möglich ist. Schunkeln, singen, OB Neher macht vorne am Mikro den Einpeitscher. Kindergarten-Gruppen treten auf, singen Lieder, treten ab, bekommen Beifall. Ein Highlight ist der Auftritt der „Singletten“, die sonst bei der Kiebinger Frauenbundfasnet auftreten. Weil die heuer ausfällt, sind Karin Frech, Ulrike Edelmann und Evi Geiger ins Rottenburger Rathaus gekommen, wo sie zum Playback mit Schmollmund und kessen Blicken Trude Herrs „Ich will keine Schokolade, ich will lieber einen Mann“ schmettern. Rauschender Beifall, „Zu-ga-be, Zu-ga-be“-Rufe.

Am Abend gehört der Marktplatz der Rottenburger Narrenzunft. Sperrgitter trennen rund 1500 Zuschauer von Pompele, Hexen und Ahlanden, die dort ihre Tänze aufführen. Die Menge steht dicht in Vierer- und Fünferreihen ums Rechteck, in das zuerst Fahnenschwinger, Stadtkapelle und der Historische Teil – Gräfin Mechthild mit Gefolge – einziehen. Danach rumpeln und scharren die Pompele vor und zurück, gutmütige Poltergeister, die ein Fass „guada Raudeburger Wein“ mit sich führen.

Anschließend nähern sich die Hexen, jede mit speziellem Namen und besonderer Fähigkeit. Sie entfachen ein Feuer, aus dem Feuerwerkskörper in die Luft stieben, und tanzen ums Feuer – bis sie von den Ahlanden vertrieben werden. Dämonischen Weißbutzen, die ihren nicht nur in Rottenburg berühmten Ahlandtanz aufführen. Damit sind die närrischen Tage in Rottenburg eröffnet. In fünf Tagen, am Aschermittwoch, ist schon wieder alles vorbei. Doch daran mag an diesem Abend noch niemand denken.