Gewaltexzess

Eine Stadt auf der Suche nach Frieden

Auf die verheerende Krawallnacht vor einem Jahr hat Stuttgart mit einem Mix aus Repression und Dialog reagiert. Erste Erfolge sind zu sehen, doch die Konflikte schwelen weiter.

19.06.2021

Von DOMINIQUE LEIBBRAND

Feiernde Jugendliche und die Polizei im Stuttgarter Schlossgarten: Das Verhältnis ist angespannt, doch es gibt auch mehr Versuche, miteinander ins Gespräch zu kommen. Foto: Lichtgut / Imago

Feiernde Jugendliche und die Polizei im Stuttgarter Schlossgarten: Das Verhältnis ist angespannt, doch es gibt auch mehr Versuche, miteinander ins Gespräch zu kommen. Foto: Lichtgut / Imago

Stuttgart. Da ist Neugier, Adrenalin, Faszination, in gewisser Weise auch Schock. „So etwas hatte ich noch nie erlebt.“ Es ist ein junger Mann, der da schreibt. Einer, der mitmacht, als in der Nacht auf den 21. Juni 2020 bis zu 500 meist männliche Randalierer durch die Stuttgarter Innenstadt ziehen, Geschäfte plündern, Steine und Flaschen werfen, Polizisten beschimpfen und verletzen. Eine Eskalation der Gewalt, die als Stuttgarter Krawallnacht bundesweit Schlagzeilen machen wird.

Dass er Mist gebaut hat, wird ihm klar, als „um 6 Uhr morgens Polizisten“ in seinem Zimmer stehen, schreibt der junge Mann. Seither nur „unnötiger Stress und Probleme“. Die Zeilen stammen aus einem Reflexionsschreiben, das er im Vorfeld einer Wiedergutmachungskonferenz verfasst hat. Täter und Opfer, darunter Polizisten und Einzelhändler, sitzen sich bei diesen Konferenzen gegenüber, erzählen, wie sie die Nacht empfunden haben. Es ist ein Baustein von vielen Maßnahmen, mit denen die Krawallnacht, die sich zum ersten Mal jährt, aufgearbeitet werden soll.

Entgleiste Debatte über Motive

Von Aufarbeitung kann in den ersten Stunden nach der Zerstörungsorgie freilich keine Rede sein. Der Schock in der Stadt sitzt tief, gehört sie doch zu den sichersten deutschen Metropolen. Krawall kennt man hier nur aus dem Fernsehen, wenn in Berlin oder Hamburg mal wieder Autos brennen. Kommentatoren überregionaler Zeitungen belächeln die Stuttgarter Ungläubigkeit bisweilen. Als wäre ein solcher Exzess irgendwie normal.

Bei den Krawallen gingen viele Fensterscheiben zu Bruch. Foto: Silas Stein/dpa

Bei den Krawallen gingen viele Fensterscheiben zu Bruch. Foto: Silas Stein/dpa

Schnell läuft die Debatte über Motive dieser wild gewordenen „Party- und Eventszene“ heiß. Wie die Polizei den Mob betitelt, entgleist bisweilen, als in einem Medienbericht fälschlicherweise behauptet wird, die Polizei betreibe mit Blick auf den Migrationshintergrund vieler Täter „Stammbaumforschung“. Dass die Sprachnachricht eines Beamten publik wird, der die Randalierer als „Kanaken“ bezeichnet, befeuert die Debatte um Rassismus bei der Polizei zusätzlich.

Doch war das der Auslöser? Das Warum beschäftigt die Stadtgesellschaft im Grunde bis heute: Corona? Der lange Lockdown? Jugendlicher Leichtsinn? Langeweile? Oder doch Hass auf Polizisten? Ein Mix aus allem?

So oder so: Die Politik will Strenge zeigen. Keine 48 Stunden nach den Krawallen reist Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) an, um vor demolierten Polizeiwagen harte Strafen zu fordern. Und er bekommt sie: Rechnet man alle seither verhängten Freiheitsstrafen zusammen, kommt man auf 100 Jahre.

Obendrein wird eine Sicherheitspartnerschaft inklusive Zehn-Punkte-Plan zwischen Land und Stadt vereinbart. Alkoholverbot, Videoüberwachung, eine Ausweitung des Hauses des Jugendrechts sind Punkte auf der Liste. Man sei dabei, diese Liste abzuarbeiten, sagt der Stuttgarter Ordnungsbürgermeister Clemens Maier (Freie Wähler). Dass noch viel zu tun ist, räumt er unumwunden ein. Mit Blick auf das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung „habe ich schon das Gefühl, dass da etwas nachhängt“.

Zumal die Konflikte in der Stadt zuletzt erneut hochgekocht sind. Ende Mai flogen wieder Flaschen auf Polizisten, OB Frank Nopper (CDU) ließ darauf die große Freitreppe am Kunstmuseum sperren, um die Tribünen-Situation – junge Leute oben, Polizisten unten – zu entzerren. Dass der Stuttgarter Vizepolizeipräsident Markus Eisenbraun ein Jahr nach der Krawallnacht ein gemischtes Fazit zieht, überrascht nicht. Die reine Ermittlungsarbeit sei erfolgreich verlaufen. Was ihm jedoch Sorge bereitet, ist eine enthemmte Stimmung in der Stadt.

Tausende seien an den vergangenen Wochenenden in die City geströmt – aus ganz Baden-Württemberg und sogar der Schweiz. Sicher gebe es nach Monaten des Lockdowns einen Nachholeffekt, für den er auch Verständnis habe. Doch anders als früher werde inzwischen die „rote Linie“ bezüglich „sozial adäquaten Verhaltens“ immer öfter überschritten, sagt Eisenbraun.

Die Folge sind Vandalismus, Müllberge und sinkender Respekt gegenüber der Polizei, die regelmäßig mit „ACAB“-Sprechchören („All Cops Are Bastards“) konfrontiert werde. Sicherlich auch befeuert durch die „Spielverderberrolle“, die man in der Pandemie habe einnehmen müssen. „Für viele Kollegen ist das eine enorme psychische Belastung““, sagt Eisenbraun. „Sie hinterfragen selbstkritisch, wie sie die Situation befrieden können. Manche kämpfen auch mit Traumatisierung. Sie sagen, ich möchte nicht, dass nochmal Flaschen auf mich geworfen werfen.“

Wie dramatisch die Situation aus Sicht der Polizei war, schilderten Beamte auch in den Wiedergutmachungskonferenzen, für die sich laut Mitorganisator Wolfgang Schlupp-Hauck von der Stelle Täter-Opfer-Ausgleich des Jugendamts schnell Freiwillige fanden, die reden wollten. Dort hätten Polizisten geschildert, wie sie von der Eskalation überrascht worden seien, dass sie Angst gehabt hätten, von der Masse junger Männer überrannt zu werden, wie nervenaufreibend es gewesen sei, stundenlang beschimpft und attackiert zu werden. „Es gab Kollegen, die keine Schutzkleidung hatten, sich erstmal zu ihren Wagen durchkämpfen mussten und beim Umziehen mit Flaschen beworfen wurden. Das ist eine beängstigende Situation, ein großes Gefühl der Hilflosigkeit.“

Täter und Opfer nähern sich an

Insgesamt wurden Haftstrafen in Höhe von 100 Jahren verhängt. Foto: Marijan Murat/dpa

Insgesamt wurden Haftstrafen in Höhe von 100 Jahren verhängt. Foto: Marijan Murat/dpa

Auf der anderen Seite seien da Täter, von denen einige schlechte Erfahrungen mit der Polizei gemacht hätten. Er habe schon mehrere Polizeikontrollen erlebt und sei dabei immer wieder „respektlos“ behandelt worden, schreibt auch der junge Mann in seinem Reflektionsschreiben und führt das auf seine „Hautfarbe“ zurück.

Eine Aussage, die die Sozialarbeiterin Jutta Jung in Abwandlung öfter hört. Die 43-Jährige gehört zum Team der Mobilen Jugendarbeit in der Stuttgarter Stadtmitte, das nach der Krawallnacht wiederbelebt wurde. Ihre Klientel beschreibt Jung als junge Menschen bis 30 Jahre, die nichts zu verlieren haben: Stress zu Hause, kein Schulabschluss, kein Ausbildungsplatz, zu viel Alkohol und Aggressionen, fast Jung die Problemlage zusammen.

Zu diesen jungen Leuten müsse man langfristig eine Beziehung aufzubauen. „Wenn ich frage, wie geht's dir, höre ich oft: Schön, dass du mich fragst. Das hat schon lange niemand mehr gemacht.“ Dass die Polizei ihre Kommunikation über Anti-Konflikt-Teams verändert habe, habe die Situation entspannt, sagt Jung. „Wir bekommen von den jungen Leuten viele gute Rückmeldungen.“

Auch Mediator Schlupp-Hauck hat in den Wiedergutmachungskonferenzen erfahren, dass neben aller notwendigen Härte Gespräche helfen können. Er habe gegenseitiges Verständnis gespürt. Für so manchen Täter sei der Austausch bei der Konferenz das erste „normale“ Gespräch mit einem Polizisten gewesen.

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Erstellt:
19.06.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 01sec
zuletzt aktualisiert: 19.06.2021, 06:00 Uhr

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