Tübingen

Gutenachtgeschichte: Ein versöhnliches Ende

Der TAGBLATT-Lesesessel startete seine diesjährige Tournee am Dienstag hinter der Stiftskirche. Knapp 100 Menschen kamen.

21.07.2021

Von Miri Watson

TAGBLATT-Redakteur Ulrich Janßen mit Christoph Joachim, dem ersten Gast des Abends, vor erwartungsvollem Publikum. Bild: Klaus Franke

TAGBLATT-Redakteur Ulrich Janßen mit Christoph Joachim, dem ersten Gast des Abends, vor erwartungsvollem Publikum. Bild: Klaus Franke

Wer heimlich doch auf Stadtbahn-Streit gehofft hatte, wurde am Dienstagabend enttäuscht: Die beiden Stadträte, die in diesem Jahr die Gutenachtgeschichte, die TAGBLATT-Lesereihe, vor etwa 100 Zuhörerinnen und Zuhörern eröffneten, hielten sich zurück. Dabei hatte Ulrich Janßen, stellvertretender Chefredakteur des TAGBLATTs, Christoph Joachim und Reinhard von Brunn auf dem Platz hinter der Stiftskirche noch ironisch angekündigt als „die fanatischsten Vertreter“ der Positionen für und wider die Stadtbahn. Gemeinsam mit Hermann-Arndt Riethmüller von der Osianderschen Buchhandlung moderierte Janßen die Veranstaltung.

Befürworter der Stadtbahn ist Christoph Joachim, der als erster las; außerdem ist es Fahrradhändler und Stadtrat für die AL/Grünen. Er nutzte die Gelegenheit, um einen Blick in die Tübinger Vergangenheit zu werfen, als es schon einmal eine Diskussion über die Einrichtung eines schienengebundenen Verkehrssystems gab: Aus dem Katalog zur Ausstellung „150 Jahre Eisenbahn in Tübingen“, die 2011 im Stadtmuseum zu sehen war, las Joachim Ausschnitte aus dem Beitrag von Elke Thran „Angst vor dem Abstellgleis? Die Universität und ihr Verhältnis zur Eisenbahn“.

Die Zuhörerinnen und Zuhörer erfuhren: Tübinger Professoren waren 1845 besorgt, der Bau eines Tübinger Bahnhofes könne zum Zuzug von „Massen von Proletariern“ führen. Nachdem der Bahnhof dann aber – von der Universität getrennt durch den Neckar – gebaut und Tübingen an das Eisenbahnnetz angeschlossen war, sorgten sich die Universitätsgelehrten schon bald, dass die mangelnde Zugfrequenz die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Universität gefährden könnte.

Joachims zweiter Text war ebenfalls eine Meinungsäußerung, wenngleich weniger explizit. Der im Jahr 1959 von Karl Langenbacher veröffentlichte Text „Die Pissoire der Vaterstadt“ beschrieb eben jene Bedürfniseinrichtungen Reutlingens zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts en detail. Für Joachims Botschaft waren nicht die Pissoire wichtig, sondern die Betrachtungen über Heimat, denn: „Bei der Innenstadtstrecke geht es um die Umgestaltung der Stadt“, so der Fahrradhändler. Im Text ist die Rede davon, dass es nicht die großen Bauten sind, die Heimat ausmachen, sondern: „Die wirkliche Gewalt der Heimat ruht in der Asphaltmulde, die bei jedem Regen die gleiche Pfütze bildet.“

Reinhard von Brunn. Bild: Klaus Franke

Reinhard von Brunn. Bild: Klaus Franke

Auch Stadtbahn-Gegner Reinhard von Brunn (Manager für Entwicklungszusammenarbeit und Stadtrat der Tübinger Liste) las Texte, die sich mit Heimat beschäftigten – allerdings ging es darin mehr um das Verlassen der Heimat und das Ankommen anderswo. Von Brunn nutzte den Abend nicht, um Stimmung gegen die Stadtbahn zu machen, sondern um über den Tübinger Tellerrand hinwegzuschauen. „Die einzige Verbindung zwischen Stadtbahn und dem, was ich lese, ist: Dass es noch existenziellere Probleme als die Stadtbahn gibt“, so von Brunn.

Beide Texte hatten mit Chile zu tun, „diesem schmalen Landstreifen am Ende der Welt“, wie von Brunn sagte, in dem der Stadtrat viele Jahre seines Lebens verbracht hat. Der erste Text, ein Brief der Hauchlinger Auswandererin Maria Faust an ihre Schwester Sofie aus dem Jahr 1853, spricht von den Beschwerlichkeiten die deutsche Kolonisten bei der Auswanderung nach Chile erfuhren: Hunger, Dauerregen, Heimweh. „Die Themen Heimat verlassen, Flucht, neu ankommen sind aktuelle Themen, daher die Textauswahl“, sagte von Brunn. So ging es im zweiten Text, einem Auszug aus Isabell Allendes Roman „Dieser weite Weg“, ebenfalls um Flucht: Um die Verschiffung ehemaliger spanischer Bürgerkriegssoldaten durch den chilenischen Dichter Pablo Neruda im Jahr 1939 nach Chile.

Nahes und Fernes, Analytisches und Poetisches bestimmte also den ersten Gutenachtgeschichten-Abend des Abends. „Ein versöhnliches Ende“, verabschiedete Janßen das Publikum. „Jedenfalls hier auf dem Platz herrschen Harmonie und Frieden.“

Die Gutenachtgeschichte auf Reisen – die Termine

Gutenachtgeschichte: Ein versöhnliches Ende
Schon am Donnerstag gibt’s die nächste Gutenachtgeschichte, und zwar im Schlossgarten Bühl. Beginn ist, wie an allen anderen Orten auch, um 19 Uhr. Die weiteren Orte und Daten sind: Bürgerhaus Weiler, Dienstag, 27. Juli. Klostergarten Bad Niedernau, Mittwoch, 28. Juli. Rammerthalle Weilheim, Donnerstag, 29. Juli. Kirchplatz Ofterdingen am Dienstag, 3. August. Gemeindehaus Hailfingen, Mittwoch, 4. August. Dorfplatz Pfrondorf am Donnerstag, 5. August. Zehntscheuer Reusten am Dienstag, 10. August. Klosterhof Kusterdingen, am Mittwoch, 11. August. Bürgerhaus Bieringen am Dienstag, 17. August. Haus am Nepomuk, Rottenburg, Freitag, 20., bis Dienstag, 24. August. Ergenzingen, Katholische Kirche, Mittwoch, 25. August.