Tübingen
Gutenachtgeschichte: Ein versöhnliches Ende
Der TAGBLATT-Lesesessel startete seine diesjährige Tournee am Dienstag hinter der Stiftskirche. Knapp 100 Menschen kamen.
Befürworter der Stadtbahn ist Christoph Joachim, der als erster las; außerdem ist es Fahrradhändler und Stadtrat für die AL/Grünen. Er nutzte die Gelegenheit, um einen Blick in die Tübinger Vergangenheit zu werfen, als es schon einmal eine Diskussion über die Einrichtung eines schienengebundenen Verkehrssystems gab: Aus dem Katalog zur Ausstellung „150 Jahre Eisenbahn in Tübingen“, die 2011 im Stadtmuseum zu sehen war, las Joachim Ausschnitte aus dem Beitrag von Elke Thran „Angst vor dem Abstellgleis? Die Universität und ihr Verhältnis zur Eisenbahn“.
Die Zuhörerinnen und Zuhörer erfuhren: Tübinger Professoren waren 1845 besorgt, der Bau eines Tübinger Bahnhofes könne zum Zuzug von „Massen von Proletariern“ führen. Nachdem der Bahnhof dann aber – von der Universität getrennt durch den Neckar – gebaut und Tübingen an das Eisenbahnnetz angeschlossen war, sorgten sich die Universitätsgelehrten schon bald, dass die mangelnde Zugfrequenz die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Universität gefährden könnte.
Joachims zweiter Text war ebenfalls eine Meinungsäußerung, wenngleich weniger explizit. Der im Jahr 1959 von Karl Langenbacher veröffentlichte Text „Die Pissoire der Vaterstadt“ beschrieb eben jene Bedürfniseinrichtungen Reutlingens zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts en detail. Für Joachims Botschaft waren nicht die Pissoire wichtig, sondern die Betrachtungen über Heimat, denn: „Bei der Innenstadtstrecke geht es um die Umgestaltung der Stadt“, so der Fahrradhändler. Im Text ist die Rede davon, dass es nicht die großen Bauten sind, die Heimat ausmachen, sondern: „Die wirkliche Gewalt der Heimat ruht in der Asphaltmulde, die bei jedem Regen die gleiche Pfütze bildet.“
Beide Texte hatten mit Chile zu tun, „diesem schmalen Landstreifen am Ende der Welt“, wie von Brunn sagte, in dem der Stadtrat viele Jahre seines Lebens verbracht hat. Der erste Text, ein Brief der Hauchlinger Auswandererin Maria Faust an ihre Schwester Sofie aus dem Jahr 1853, spricht von den Beschwerlichkeiten die deutsche Kolonisten bei der Auswanderung nach Chile erfuhren: Hunger, Dauerregen, Heimweh. „Die Themen Heimat verlassen, Flucht, neu ankommen sind aktuelle Themen, daher die Textauswahl“, sagte von Brunn. So ging es im zweiten Text, einem Auszug aus Isabell Allendes Roman „Dieser weite Weg“, ebenfalls um Flucht: Um die Verschiffung ehemaliger spanischer Bürgerkriegssoldaten durch den chilenischen Dichter Pablo Neruda im Jahr 1939 nach Chile.
Nahes und Fernes, Analytisches und Poetisches bestimmte also den ersten Gutenachtgeschichten-Abend des Abends. „Ein versöhnliches Ende“, verabschiedete Janßen das Publikum. „Jedenfalls hier auf dem Platz herrschen Harmonie und Frieden.“
Die Gutenachtgeschichte auf Reisen – die Termine