Gutenachtgeschichte

Ein später Sommerabend für die Liebe

Die Geschichten, die Sabine Weithöner und Michael Barner hinter der Stiftskirche vorlasen, widmeten sich dem schönsten Thema der Menschheit.

04.09.2020

Von Monica Brana

LTT-Schauspielerin Sabine Weithöner las hinter der Stiftskirche. Bild: Klaus Franke

LTT-Schauspielerin Sabine Weithöner las hinter der Stiftskirche. Bild: Klaus Franke

Wer damals zur ersten „Gutenachtgeschichte“ des TAGBLATTs gekommen sei? Auf dem Stiftskirchenplatz reckten am Donnerstagabend etliche Zuhörer die Finger. Seit 1996 besteht das allsommerliche Geschichtenvorlesen, es geht in diesem Jahr in die 25. Runde und sei bis sagte, sagte Moderator Ulrich Janßen, „ein Hort der Geborgenheit und Stabilität, gerade in unruhigen Zeiten“.

Ein Catering dürfe es wegen der Corona-Bestimmungen nicht geben, bedauerte Janßen. Und auch der Spendenhut durfte nicht wie gewohnt von Hand zu gehen. Dafür bekamen die 100 erlaubten Zuhörer, die hinter Absperrband auf Plastikstühlen saßen, immerhin drei Geschichten zu hören.

Ein milder Spätsommertag neigte sich dem Ende zu, ringsum jagten Fledermäuse, nur die Stiftskirchenglocke störte das Idyll. Nach Glockenspiel und Abendläuten meldete sich, auch noch die Kreuzglocke, die zur Erinnerung an Jesus‘ Gebet im Garten Gethsemane immer am Donnerstag läutet.

Sabine Weithöner schritt zuerst zum Vorlesesessel. Die 52-Jährige las Alberto Moravias „Jammerlappen“. Gekannt erweckte die Schauspielerin einen Erzähler zum Leben, der, als ihn unverhofft die Liebe trifft, „erst an ein Missverständnis“ denkt. Als „klein, verwachsen, rachitisch“ nahm er sich selbst wahr, ein Stubenmädchen bezeichnet den Küchenhelfer gar als „Jammerlappen“. Doch dann kommt eine neue Kollegin, Ida, mit ähnlichen Behinderungen. Sie greift nicht nur nach seinem Herzen, sondern, als er fragt: „Wie bringst du es fertig, mich zu lieben?“, auch an seine Nase und schüttelt diese „wie eine Glocke“. Das nicht perfekte Paar besucht den Zirkus.

Ausgiebig schildert Moravia den Besuch, erzählt detailreich, wie Hanswurste auftreten und Pferde im Kreis laufen. Einige der vorwiegend älteren Zuhörer hörten mit geschlossenen Augen zu. Ein Streit mit einem anderen Zirkusbesucherpaar führt schließlich dazu, dass ein schönerer, stärkerer Mann den Erzähler auf den Rücken eines Elefantenjungen setzt. Er stürzt und ist voller Sorge, dass ihn die Geliebte verachten könnte. Doch sie sagt nur: „Wie schön du auf dem Elefanten ausgesehen hast.“

Gutenachtgeschichte Sabine Weithöner
30:13 min
Wie Enttäuschung Liebe verkomplizieren kann, zeigte Weithöner anschließend anhand von Laura De Wecks dialogischem Dramolett „Vier Liebeserklärungen“. In vier Szenen schlingert Anton dort als Achtjähriger über einen Pausenhof, mit 16 durch eine Disco, und kassiert mit 24 im Park eine Abfuhr. Mit 32 traut er sich dann gar nichts mehr zur Angebeteten zu sagen. Doch ausgerechnet Leila, die letzte in der Reihe der unglücklichen Lieben, bleibt, weil sie den erst stillen, dann verstockt stammelnden Anton durchschaut und ihm erklärt: „Ich-will-mit-dir-gehen, kapiert?“ Das Publikum dankte für das Happy end mit großem Applaus.

Nach der Pause legte Michael Barner, der vielleicht bekannteste Kinderarzt der Stadt, einige Passagen aus Leif Randts gefeiertem Roman „Allegro Pastell“ nach. Der 70-Jährige warnte, seine Lesung gehe „nicht so auf den Punkt“. Seine Frau Heide und er hätten sich den Roman gegenseitig vorgelesen, erst mit der Zeit habe er sich damit angefreundet.

Barner begann an einem Bahnsteig. Dort treffen Jerome Daimler und Tanja Arnheim im Sommer 2017 zusammen, und geraten, nach einem One-Night-Stand mit nicht so gutem, aber ihrer Einschätzung nach ausbaufähigem Sex in eine Fernbeziehung Berlin-Frankfurt.

Tanja ist 30 und Schriftstellerin, hat den Roman „PanoptikumNeu“ geschrieben,ihr Webdesigner-Freund ist fünf Jahre älter. Während beide Protagonisten jeweils zwischen Fitnessclub und Party tingeln, verfolgten die Zuhörer, teils mit gebannt geschlossenen Augen, wie die beiden ihre Erlebnisse permanent reflektieren. Jerome beobachtet sich beim Versuch zu meditieren, weil er es als wertvoll empfindet, seine innere Stimme zu hören, wenngleich sie ihn an die Vorlesestimme aus dem Laptop erinnert.

Jerome schickt Tanja Selfies, in denen er sich beim Lauftraining fotografiert, sie interpretiert es als Männergeprotze, während sie selbst im Fitnessstudio probetrainiert. Jeromes Eitelkeit sei „erfrischend anders gelagert“, findet sie. Doch dann trifft sie Jannis. Sein Mittelscheitel erscheint ihr „absurd und attraktiv zugleich“, und bald geht ihr Jerome auf die Nerven. Ihr Bedauern verrät viel über das Lebensgefühl der beiden jungen Leute: „Ich könnte ihn jetzt nicht sehen, aber ich vermisse das Gefühl, gerne an ihn zu denken.“

„Schade, dass das Catering fehlt“, fand eine Zuhörerin. 2019 habe ihr die Gutenachtgeschichte in Bühl trotz Regens so gut gefallen, dass sie eigens von Kilchberg nach Tübingen geradelt sei. Der Begleiter der 58-Jährigen, der ebenfalls anonym bleiben wollte, war erstmals dabei und „positiv überrascht.“

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Erstellt:
04.09.2020, 20:07 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 11sec
zuletzt aktualisiert: 04.09.2020, 20:07 Uhr

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