Tübingen · Medizin

Ein gesellschaftliches Tabuthema

Der Tübinger Neurowissenschaftler Tobias Kaufmann erhält zwei Millionen Euro zur Erforschung des Gehirns nach Schwangerschaftsverlust.

01.02.2023

Von ST

Tobias Kaufmann. Bild: UKT

Tobias Kaufmann. Bild: UKT

Schwangerschaftsverluste sind noch immer ein gesellschaftliches Tabuthema, über das relativ selten offen gesprochen wird. Dabei enden in Deutschland ungefähr 15 Prozent aller erkannten Schwangerschaften in einem frühen Schwangerschaftsverlust und ungefähr vier von tausend Schwangerschaften in einer Totgeburt, heißt es in einer Mitteilung des Tübinger Uniklinikums. Der frühe Verlust des Kindes ist oft ein traumatisches Ereignis für die werdenden Eltern, dessen Tragweite für die betroffenen Mütter häufig unterschätzt wird. So ist deren Risiko für psychische Erkrankungen nach Schwangerschaftsverlust deutlich erhöht – nicht nur unmittelbar, sondern auch bei späteren Schwangerschaften.

Für sein Forschungsprojekt „Modelling and maintaining maternal mental health“ erhält nun Tobias Kaufmann, Professor für Neurotechnology and Computational Psychiatry an der Tübinger Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, einen „Consolidator Grant“ des Europäischen Forschungsrates (ERC). Das Projekt zur neurowissenschaftlichen Erforschung der Plastizität des Gehirns nach dem Verlust einer Schwangerschaft wird über einen Zeitraum von fünf Jahren mit insgesamt rund zwei Millionen Euro gefördert. Mit den „Consolidator Grants“ unterstützt der ERC exzellente Forscherinnen und Forscher.

„Schwangerschaftsverlust ist ein neurowissenschaftlich wenig beforschtes Thema. Es ist bekannt, dass das weibliche Gehirn im Zuge einer Schwangerschaft umstrukturiert wird, allerdings wissen wir nicht, welchen Dynamiken diese Prozesse bei Verlust der Schwangerschaft unterliegen“, sagt Tobias Kaufmann. Noch wisse man wenig darüber, welche Faktoren nach einem Schwangerschaftsverlust gemeinsam auf das Gehirn einwirken und wie sich psychische Erkrankungen im Gehirn der betroffenen Frauen manifestieren, so Kaufmann: „Genau hier setzt unsere Forschung an und wir hoffen, ein besseres Verständnis vom Entstehungsprozess psychischer Erkrankungen zu erlangen.“

Psychische Erkrankungen haben nicht den einen Auslöser, sondern ihnen liegen meist mehrere Faktoren zugrunde. Bei der Untersuchung der besonders kritischen Phase nach einem Schwangerschaftsverlust wollen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das Zusammenspiel von verschiedenen Faktoren wie etwa der Genetik oder der Hormone und soziostrukturellen Einflüssen analysieren. Es gilt herauszufinden, wie sich diese Faktoren auf die Struktur und Funktion des Gehirns über einen gewissen Zeitraum hinweg auswirken.

Dafür werden Frauen in den Wochen nach ihrem Schwangerschaftsverlust begleitet und mehrfach untersucht, um eine breite Datenbasis aufzubauen, die dann mittels komplexer statistischer Verfahren analysiert wird. Anhand dieser Untersuchungen erhofft sich das Team um Prof. Kaufmann, Erkenntnisse über die Entstehung psychischer Erkrankungen zu gewinnen.