Der Rechthaber

Ein Tag mit dem streitbaren Tübinger OB Boris Palmer

Der Tübinger OB ist einer der streitbarsten Köpfe Deutschlands – und nimmt scheinbar in Kauf, dass er sich durch seine Provokationen vieles verbaut. Besuch bei einem, der nicht anders kann.

09.02.2019

Von Roland Müller

„Mich als pathologischen Fall abzustempeln ist nur eine einfache Methode, um sich nicht mit meinen Argumenten beschäftigen zu müssen“, sagt Boris Palmer. Foto: Ulrich Metz

„Mich als pathologischen Fall abzustempeln ist nur eine einfache Methode, um sich nicht mit meinen Argumenten beschäftigen zu müssen“, sagt Boris Palmer. Foto: Ulrich Metz

Viel Zeit hat Boris Palmer nicht für die Mittagspause, er nimmt große Schritte über das Kopfsteinpflaster in der Tübinger Altstadt. Natürlich kennt er all die schmalen Treppchen zwischen den Häusern, die den Weg zum Italiener abkürzen. Plötzlich hält er inne, zeigt auf meterhohe Grafittis an zwei Fachwerkhäusern. „Diese Schmierereien“, schimpft er los, er verstehe das nicht. „So ein Werk schafft man nicht in zehn Minuten, das muss doch jemand mitkriegen.“ Nein, er selbst habe auch noch keinen der Übeltäter des nachts gesichtet. „Ich wünschte ja, ich würd‘ mal einen erwischen“, sagt Palmer und grinst. „Da würde ich auch von meinem Recht auf Festnahme Gebrauch machen.“ Kein Zweifel: Er meint es ernst.

Nachzugeben, so viel ist sicher, gehört nicht zu den typischen Angewohnheiten Boris Palmers. Da ist dem Tübinger OB egal, ob er in Medien als „Sheriff“ verspottet wird. So wie im November, als er nachts mit einem Pädagogik-Studenten aneinander geraten war. Weil der erst frech und dann laut wurde, zückte Palmer den Dienstausweis, wollte wegen Ruhestörung die Personalien aufnehmen – und machte Fotos. Letzteres brachte ihm nun eine Rüge des Regierungspräsidiums wegen Unverhältnismäßigkeit ein. „Nicht klug“, nennt Palmer die Aktion heute ob des bundesweiten Medien-Echos. Aber: Als OB dürfe er das. Er sei doch im Recht gewesen.

So omnipräsent wie umstritten

Was klug ist und was richtig ist, und wie klug es ist, immer das zu sagen und zu tun, was man für richtig hält – es ist die eigenwillige Auslegung dieser Fragen, die Boris Palmer zum bekanntesten Oberbürgermeister Deutschlands gemacht hat. Ob es um die Flüchtlingsfrage geht, um nächtliche Streits mit Studenten oder seine Meinung zur Hauptstadt Berlin: Palmer ist so omnipräsent wie umstritten. Seine Einwürfe prägen die öffentliche Debatte mit, haben ihn aber auch politisch isoliert. Er fühlt sich oft missverstanden, kann und will sich aber auch nicht zurücknehmen. Und viele fragen sich: Was treibt ihn an?

Im Besprechungszimmer des Rathauses sind an diesem Morgen Vertreter von Pflegediensten, Sozialverbänden und Uniklinik zusammengekommen, um über ihre Sorgen zu sprechen: Personalmangel, Pflegeplatz-Engpässe, Bürokratie. Palmer hört zu, schaltet schnell, kennt sich im Thema aus. Es sei wie so oft: Die Stadt müsse „Probleme lösen, die andere geschaffen haben“, nämlich Bund und Land. Etwa zu strenge Vorgaben beim Personalschlüssel, die dazu führten, „dass wir, wenn eine Stelle länger unbesetzt ist, die Leute aus den Betten werfen müssten“, schimpft er. Für eine Kurzzeit-Pflege verspricht er, „einen Bauplatz finden wir, kein Problem“. Doch die Gäste haben ein weiteres Anliegen: „Wir wollen Sie, Herr Palmer, für das Thema gewinnen“, sagt Heike Merz, Direktorin des Luise-Wetzel-Stift. Der OB solle sich öffentlich einsetzen, bei einem Ausbildungstag sprechen. „Bin ich gerne dazu bereit“, sagt Palmer. „So lange Sie noch sagen, dass es hilft und nicht schadet, wenn ich komme.“ Gelächter am Tisch.

„Was er hier in Tübingen macht, ist gut“

Dass jemand wie Palmer, der notorische Debatten-Zündler, gleichzeitig ein guter OB sein könnte, ist außerhalb Tübingens schwer zu vermitteln. Auch in der Stadt tut sich mancher schwer mit Palmers Doppelrolle. „Ich ärgere mich öfter über ihn, wenn er wieder was angezettelt hat“, sagt Uwe Liebe-Harkort, Vorsitzender des Tübinger Seniorenrats, nach dem Termin. „Aber was er hier macht, ist gut.“ Politiker, die nur Fensterreden halten, seien schlimmer. „Von dem OB Kuhn in Stuttgart hört man ja gar nie etwas.“ Palmer sei streitbar, aber „immer konstruktiv“, ergänzt Cornelia Weber vom Diakonischen Werk. Palmer selbst geht davon aus, eine „solide Mehrheit“ in der Stadt zu haben. Bei seiner Wiederwahl 2014 holte er 61,7 Prozent. Geliebt werde er nicht. „Manche hassen mich sogar.“

Dass er für die Stadt nicht vollen Einsatz gebe, behauptet aber niemand. Im Rathaus gilt seine Arbeitswut als legendär. Er lese (Mitarbeiter mutmaßen: nachts) jede Akte, stecke als OB tief in den Fachthemen drin, sagt Tim von Winning, der lange Stadtplaner in Tübingen war und heute Baubürgermeister in Ulm ist. „Und dann weist er dich auf einen Fehler in der Tabelle auf Seite 25 hin, den du selber erst suchen musst“. Palmer brenne für die Projekte, von denen er überzeugt sei. „Da legt er alles rein, verlangt aber auch wahnsinnig viel. Und er will Widerspruch hören von seinen Leuten.“ Unbestritten sind auch die Erfolge seiner Amtszeit: 20 Prozent mehr Jobs bei 32 Prozent weniger CO2-Ausstoß, rechnet Palmer vor. Ökonomie und Ökologie gingen Hand in Hand, Startups in Künstlicher Intelligenz und Biotech siedeln sich an, die Steuern sprudeln.

„Da bin ich ein Lernender“

Lange Zeit hatte es danach ausgesehen, als wäre all das auch Treibstoff für eine steile politische Karriere. 2001 kam Palmer als 29-Jähriger in den Landtag, er machte sich als Verkehrsexperte einen Namen, wurde Fraktionsvize. Nach einem erfolglosen Anlauf in Stuttgart eroberte er 2006 gegen die Amtsinhaberin den OB-Sessel in Tübingen – ein Riesenerfolg. Bei der Schlichtung zu Stuttgart 21 redete er das umstrittene Projekt rhetorisch brillant in Grund und Boden und brachte die Bahn-Experten ins Schwitzen. Ein Ministeramt schien damals nur eine Frage der Zeit, zumal Winfried Kretschmann große Stücke auf ihn hielt. Doch schon damals ging die Palmer-Show einigen auf die Nerven. „Er ist wahnsinnig schnell im Kopf, und er lässt das die Leute auch spüren“, beschreibt von Winning einen zentralen Wesenszug, mit dem nicht jeder könne. „Die merken dann, er hat recht, aber es nervt sie trotzdem.“ Palmer, der schon als Schüler als hochbegabt eingestuft wurde, weiß, dass er „eine Schwäche“ hat, Leute mitzunehmen, die außer mit Argumenten auch „atmosphärisch“ abgeholt werden wollen. „Da bin ich ein Lernender.“

In der Politik ein Netzwerk an Mitstreitern und Gefolgsleuten aufzubauen, taktisch auch mal den Mund zu halten, das war nie sein Ding. Dafür glänzte er gern in den Medien. Dass ihm linke Weltbilder und Gesinnungsthemen herzlich egal sind, machte es ihm bei den Grünen nicht leichter. Als er es wagte, das uneingeschränkte Adoptionsrecht für Homosexuelle anzuzweifeln, wurde er 2012 hochkant aus dem Parteirat geworfen.

Brücken zur Partei niedergebrannt

Zur Kernschmelze im Verhältnis mit den Grünen kam es jedoch 2015, als er zum Warner gegen die Flüchtlings-Euphorie wurde, von Zäunen, Grenzen und Abschiebungen sprach, als das noch AfD-Parolen waren und nicht die offizielle Haltung der grün geführten Landesregierung. Heute spricht sogar Kretschmann davon, kriminelle „Männerhorden“ müsse man in die „Pampa“ schicken. Mit der Angewohnheit, nicht zurückzuziehen, immer gegenzuhalten, auch gegen den Rat von Freunden, brannte er fast alle Brücken zur Partei nieder. Dass daraus noch mal was wird, bezweifelt er selbst. Dafür hat er es sich jetzt auch zu gut eingerichtet in seiner Rolle: in politischer Verantwortung als Tübinger OB und gleichzeitig Medien-Star, der keine Rücksicht nehmen muss auf Parteiräson – und doch Gehör findet, immer wieder in allen großen Medien. Die größte Freiheit, die ein Politiker haben kann.

„Da reagiere ich genauso wie mein Vater“

Menschen, die ihn kennen, raunen aber auch, er habe sich verändert, werde unbeherrschter, impulsiver, brauche immer mehr die Aufmerksamkeit der Medien; statt der Ratio übernehme die Emotion das Kommando. Kurzum, er werde „wie der Vater“: Jener Helmut Palmer, der als „Remstal-Rebell“ berühmt wurde, weil er gegen die Obrigkeit wetterte, sich mit Beamten und Richtern anlegte, mehrfach im Gefängnis saß und immer wieder erfolglos für Bürgermeisterposten kandidierte. Eine impulsive, geniale, unbelehrbare demokratische Naturgewalt – und am Ende doch ein Gescheiterter. Palmer seufzt. Er wusste, dass die Frage kommen würde. Parallelen kann er nicht abstreiten. „Wenn ich Gegenwind bekomme, wenn mir einer den Mund verbieten will, wenn es darum geht, sich nichts gefallen zu lassen – da reagiere ich genauso wie mein Vater“, sagt Palmer.

Dass er damit und mit Diagnosen wie Narzissmus etikettiert wird, findet er aber unfair. „Mich als pathologischen Fall abzustempeln ist nur eine einfache Methode, um sich nicht mit meinen Argumenten beschäftigen zu müssen.“ Und der Rechthaber-Vorwurf? „Es wäre doch viel schlimmer, man könnte beweisen, dass ich falsch liege.“

Ein Politiker neuen Typs?

Mit „nulli cedo“, lateinisch für „ich weiche niemandem“, habe Helmut Palmer seine Bücher signiert. Und weil er vielleicht eh nicht anders kann, hat Boris Palmer das in seine eigene politische Philosophie übersetzt. Für seine Überzeugungen einzustehen, leidenschaftlich, ungefiltert und ohne taktische Erwägungen. Täglich direkt mit seinen 40.000 Followern auf Facebook zu streiten, die von etablierter Politik und klassischen Medien längst nicht mehr erreicht würden. Zu pfeifen auf Worthülsen und von Pressesprechern geglättete Sprachfloskeln. „Einmischung ist Bürgerpflicht“, sagt Palmer. „Vielleicht kann man eine Gesellschaft auch durch den Streit zusammenhalten.“ So ähnlich dachte es der Soziologe Ralf Dahrendorf in den 60ern vor.

Und ist es womöglich genau das, was ein Politiker in der Social-Media-Demokratie mitbringen muss? Weil es immer unterhaltsam ist und lebendig? Weil es immer Klicks bringt und Schlagzeilen? Weil er keiner Debatte aus dem Weg geht, auch wenn es stinkt und kracht? Ein Politiker neuen Typs also? Palmer kann mit dem Gedanken etwas anfangen. „Jeder Paradigmenwechsel fängt in der Regel damit an, dass es einen Ketzer gibt“, sagt er – ganz ohne Ironie.

Und am Ende eines langen Tages verlässt man Tübingen mit dem Gedanken, dass mehr Palmer der Politik wohl gut tun könnte, Palmer selbst aber mit etwas weniger Palmer besser fahren würde.

Aus dem Landtag in den OB-Sessel

Zur Person Boris Palmer (46) ist in Waiblingen geboren und in Geradstetten als Sohn des Obstbauern und „Remstal-Rebellen“ Helmut Palmer aufgewachsen, der bei mehr als 250 Bürgermeisterwahlen antrat. Nach seinem Lehramtsstudium (Mathematik, Geschichte) in Tübingen wurde Palmer 2001 in den Landtag gewählt. 2006 schaffte er es erneut ins Parlament, gab das Mandat aber auf, als er im selben Jahr die OB-Wahl in Tübingen gewann. Palmer sprach sich früh für schwarz-grüne Koalitionen aus und gilt als Vertrauter von Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Er ist unverheiratet und hat zwei Kinder.