Tübingen · Solidarität

Ein Strich durch das Gesicht von Xi Jinping

Mit Kerzen forderten Demonstranten auf der Plataneninsel in Tübingen „Freiheit für China“.

03.12.2022

Von Christina Lopinski

„Free China“ steht in Kerzenschrift auf der Neckarinsel. Mit der Demonstration soll die Freiheitsbewegung in China unterstützt werden. Bild: Klaus Franke

„Free China“ steht in Kerzenschrift auf der Neckarinsel. Mit der Demonstration soll die Freiheitsbewegung in China unterstützt werden. Bild: Klaus Franke

Zwei Frauen verteilen Flyer auf der Neckarbrücke, es ist dunkel und diesig an diesem Donnerstagabend. Auf dem Treppenabsatz in Richtung Neckarinsel stehen Kerzen und Schilder. Auf chinesisch, deutsch und englisch drücken die Demonstrierenden ihr Mitgefühl mit den Opfern des Feuers in der chinesischen Stadt Urumqi aus.

Am 24. November sind mindestens 10 Menschen gestorben, die wegen der strikten Covid-Politik in einem Gebäude eingeschlossen waren. „Die Regierung spricht von zehn Toten, aber wir sind uns sicher, dass es mehr sind und werden. Die Menschen in China leiden, viele verhungern oder springen vor lauter Verzweiflung von Gebäuden“, sagt die Frau, die Flyer verteilt, auf Englisch. Sie trägt eine Sonnenbrille und hat ihre Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Genau wie die anderen circa 30 Chinesen und Chinesinnen, die diese Mahnwache organisiert haben, trägt sie einen Mundschutz. Ihren Namen möchte sie nicht nennen, auch nicht, was sie studiert. „Wir haben Angst“, sagt ihre Freundin. „Das Regime ist auch im Ausland, macht Fotos von chinesischen Bürgern, bestraft vielleicht die Familie“.

Die Frauen erzählen von Unterdrückung, Kontrolle, Überwachung und Propaganda, sie zeichnen das Bild eines klassisch totalitären Regimes, das seine Bürger überwacht und einschüchtert, um seine Macht auszubauen. „Ich war seit 2019 nicht mehr in China. Und ich weiß nicht, ob ich zurück möchte. Ich vermisse meine Familie, aber ich liebe die Freiheit“, sagt eine der beiden Frauen und die andere nickt. „All das hat doch nichts mehr mit Covid zu tun“, sagt ein Passant, der den Erzählungen zugehört hat.

Dann beginnt die leise Demonstration auf der Neckarinsel. Ein junger Chinese hält ein Megafon in der Hand, durch eine Box dröhnt die Melodie vom ‚Lied des Volkes‘, das durch den Film Les Misérables, der die Französische Revolution behandelt, bekannt wurde. Die Demonstrierenden sind nervös und singen entweder leise oder gar nicht. „Es ist die Musik der Menschen, die keine Sklaven mehr sein werden“, ruft ein Chinese im Publikum laut.

Zur Begrüßung werden Regeln erklärt. „Man muss alle Menschen respektieren. Außer Diktatoren“, sagt der Moderator. Eine Frau verteilt Sticker, auf denen das durchgestrichene Gesicht von Machthaber Xi Jinping zu sehen ist. „Ich bitte Sie auch, keine Fotos zu machen und unsere richtigen Namen zu nennen. Unsere Familien sind noch in China.“

Er wiederholt alles auf Chinesisch, obwohl die meisten hier sehr gut deutsch sprechen. „Wir möchten uns mit den landesweiten Protesten solidarisieren, und wir haben ein paar Forderungen“, sagt er und erklärt, warum die Zero-Covid-Politik ein Instrument der Überwachung, und keine Gesundheitsmaßnahme ist. Er erklärt, was gerade in China passiert und warum es so gefährlich ist, dass es keine Bürgerrechte und keine freie Meinungsäußerung gibt.

Währenddessen wird im Publikum weißes Papier verteilt: Eine Anlehnung an die Proteste in China. „Sie wissen, dass sie unsere Gedanken nicht ändern können“, sagt der Moderator. „Unsere Wut verdrängt unsere Angst, lasst uns unsere Forderungen deshalb gemeinsam sagen“. Zuschauende und Demonstrierende halten Kerzen und das weiße Papier, das symbolisch für die allumfassende Zensur der Regierung steht, in die Luft und wiederholen die Sätze, die der junge Chinese ruft: „Freiheit für die Rede, für die Versammlung, für die Kunst, für China.“

Im Anschluss wird das Lied des Volkes noch einmal gesungen, erst auf Englisch, dann auf Chinesisch. Dieses Mal singen fast alle mit. Chinesen und Chinesinnen aus dem Publikum haben sich mittlerweile zu den Demonstrierenden gesellt, auch sie tragen Sonnenbrillen. Es ist die erste Anti-Regime Demo der chinesischen Gemeinschaft in Tübingen seit 30 Jahren. „Wir sind so viele hier und wir werden nicht ruhen, das hilft mir sehr“, sagt die Frau, die immer noch Flyer verteilt, die seit drei Jahren nicht zu Hause war und die China liebt, „aber die Politik verabscheut“.

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Erstellt:
03.12.2022, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 58sec
zuletzt aktualisiert: 03.12.2022, 01:00 Uhr

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