Kino

Ein Mann macht sich auf den Weg

Julian Pörksen entdeckt in seinem Langfilmdebüt „Whatever Happens Next“ die Figur des Tagediebs für die Gegenwart.

04.12.2018

Von Dorothee Hermann

Ein Mann macht sich auf den Weg

Es ist ein kleines, sehr schmalgiebeliges Haus, aus dem der 43-jährige Paul Zeise (Sebastian Rudolph) am letzten Morgen seines gewohnten Lebens tritt. Wenige Kilometer weiter lässt er sein Fahrrad stehen und wählt den Weg quer durch die Wiesen. Fortan überlässt er sich dem Zufall. Paul ist der Protagonist im Roadmovie „Whatever Happens Next“ von Julian Pörksen.

Der Name klingt irgendwie vertraut. Das liegt daran, dass der Regisseur der jüngere Bruder des Tübinger Medienwissenschaftlers Bernhard Pörksen ist. Am Sonntagvormittag stellte der 33-Jährige seinen Film, der auf der diesjährigen Berlinale in der Sektion „Perspektive Deutsches Kino“ lief, etwa 40 Zuschauern im Tübinger Kino Arsenal vor.

Wie sehr er eingeschliffene Eigentumsvorstellungen knirschen lässt, zeigt Paul, als er auf einem Supermarktparkplatz in ein nicht abgeschlossenes Auto steigt und der Fahrzeugbesitzer dazukommt. Doch der, ein Friedhofsgärtner, ist noch nicht völlig verbiestert. Nach der ersten Verblüffung gönnt er dem Eindringling die Mitfahrgelegenheit ins Stadtzentrum, ein paar Münzen und etwas zum Rauchen. „Der Film lässt viel Raum, sich zu fragen, würde ich den mitnehmen?“, sagte eine Zuschauerin nach der Vorstellung.

Warum hat Pörksen seinen Aussteiger auch als Schnorrer und Taugenichts angelegt? „Ich wollte, dass die Figur ein Gespür hat für die Lücken, durch die er ins Leben der anderen hineinkommt“, sagte der Regisseur nach der Vorstellung. „Er ist übergriffig, aber er gibt auch sehr viel. Was er geben kann, ist seine Anwesenheit, aber die ist bereichernd.“

Genau so sieht das im Film ein krebskranker Kunstmäzen (eine Nebenrolle, gespielt von Hanns Zischler, zuletzt im Sommer als Hölderlin-Rezitator in Tübingen): Es regt ihn überhaupt nicht auf, als sich im Nachhinein herausstellt, dass er vier oder fünf Wochen lang einen Schnorrer bei sich beherbergt hat. Denn sonst wäre schlicht niemand für ihn da gewesen. Sein Sohn fand die Symptome der tödlichen Krankheit wohl zu heftig. „Alle, die er besucht hat, haben auf ihn gewartet“, sagte der Filmemacher.

Doch die Bilder können mehr im Zuschauer auslösen, als in den jeweiligen Szenen zu sehen ist: „Wo führt das hin? Dass man vielleicht mal allein auf der Straße zusammenbricht, und niemand ist da“, sagte Pörksen. „Dass Paul genau im richtigen Moment kommt, löst bei verschiedenen Leuten Freiheitsinstinkte aus.“

Sein Protagonist ist nicht nur deshalb ambivalent, weil er anderen etwas vorschwindelt. Paul tut anderen auch sehr weh. Seine Ehefrau hat er ohne jede Erklärung einfach verlassen. Ganz wie die Leute, die mal kurz zum Zigarettenholen gehen und nie mehr gesehen werden. Solche Ambivalenzen haben ihm beim Schreiben „unglaublich Spaß gemacht“, sagte Pörksen. „Alle Figuren, alle Milieus waren möglich.“

Das scheinbar vom Zufall bestimmte Ineinandergleiten der Episoden hat der Regisseur sich bei berühmten Vorbildern abgeschaut: Er bewundert Jim Jarmush und John Cassavetes, erläuterte aber am Beispiel von Hitchcocks „Die 39 Stufen“, was ihn an der episodischen Erzählweise reizt: „Jemand macht eine Tür auf, kommt in eine politische Versammlung und hält dann eben
eine Rede.“

Kurzzeitig habe sich das Fernsehen für seinen Film interessiert, dann aber abgewunken, so Pörksen. Sein Erzählstil sei als zu offen gesehen worden, sagte der Filmemacher und bedauerte, dass das deutsche Fernsehen sein Publikum unterschätze. „Das ist im amerikanischen Fernsehen anders. Da hält man die Leute für intelligent.“

Ihm ist bewusst, dass sein Film „vielleicht schwierig“ wirkt, wenn man „diese kleinen Clips gewöhnt ist“ und das Tempo, in dem erzählt wird. Aber er hofft, „dass diese etwas langsameren, suchenden Filme fortbestehen“.

Gedreht hat Pörksen im Sommer 2017 in Deutschland und Polen. „Es war wie so ein kleiner Wanderzirkus.“ Der durchökonomisierten Gegenwart hat er einen Aussteiger und Tagträumer entgegengesetzt. Dabei hatte er den Mut, die Rolle nicht mit einem Sonnyboy zu besetzen, für den sich am Ende umso strahlender alles wieder einrenkt.

Wohin seine eigene Reise führt, wollte ein Zuhörer von dem Filmemacher wissen. Darauf Pörksen, Dramaturg am Schauspiel Köln: Er hofft, dass er beides machen kann, Theater und Kino. Sein nächstes Filmprojekt, über das Sterben, soll eine Groteske werden.

Ein Mann macht sich auf den Weg

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Erstellt:
04.12.2018, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 05sec
zuletzt aktualisiert: 04.12.2018, 01:00 Uhr

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