Tübingen

Reimar Marsiske: Ein Leben im Traumberuf

Wer in den vergangenen Jahren in Tübingen in die Bahn stieg, wurde bestimmt mal von Reimar Marsiske gefahren: 44 Jahre arbeitete er als Lokführer.

21.12.2018

Von Jonas Bleeser

44 Jahre Lokführer: Reimar Marsiskes letzte Fahrt
© ST 03:42 min
Reimar Marsiske war 50 Jahre bei der Bahn, 44 davon in seinem Traumberuf als Lokführer. Wir haben ihn auf seiner letzten Fahrt ein Stück mit der Kamera begleitet. Video: Jonas Bleeser

Wie bei vielen Eisenbahnern begann die große Liebe seines Lebens klein: Reimar Marsiske bekam als Fünfjähriger von seinen Eltern eine Modelleisenbahn geschenkt. Eine Märklin H0, eine Dampflok, zwei Wägelchen. „Vielleicht hat mein Vater die eigentlich selber wollen“, sagt Marsiske und lacht. Ob der Vater ahnte, dass damit der Samen gelegt war, der den Sohn später ganz in seinem Traumberuf aufgehen lassen würde? Jedenfalls geschah genau das: Während andere lange überlegen, viel ausprobieren und am Ende vielleicht in einem Job landen, der eigentlich nur schlecht zu ihnen passt, war Marsiske klar: Er würde Lokführer werden.

Mit Zügen klappte auch Mathe

Seine Begeisterung für die rollenden Wagen auf den glänzenden Schienen fiel auch anderen früh auf. „In der Schule hatte ich einen Superlehrer“, erinnert sich Marsiske, „wenn ich in Mathe Schwierigkeiten hatte, dann hat der das umgemünzt auf die Eisenbahn – dann hab‘ ich alles rausgebracht. Das vergess‘ ich dem Mann nie.“

Das erste Mal saß er dann 1973 als Fahrer im Führerstand einer richtigen Lok: Führen durfte man sie damals eigentlich erst ab 21 Jahren. „Ich hab aber mit zwanzigeinhalb die Prüfung gemacht und durfte mit einer V 260 rangieren.“

Die Ausbildungsverordnung der Deutschen Bundesbahn war streng: Man musste zuerst einen Metallberuf erlernen, bevor man Lokführer werden konnte. Also ging Marsiske als Maschinenschlosser im Bahnbetriebswerk Tübingen in die Lehre. Die Eltern waren mittlerweile geschieden, seine Mutter zog ihre fünf Kinder in Rommelsbach alleine groß. „Ich bin ihr heute noch dankbar, dass sie mich eine Lehre machen ließ und nicht zum Mitverdienen in die Fabrik geschickt hat.“

Marsiske blieb bei der Bahn – 50 Jahre lang. Seine erste Dienstfahrt als Lokführer eines Personenzugs machte er am 20. November – 44 Jahre später rollt er mit seinem letzten Zug, dem Regionalexpress von Stuttgart, an einem Dienstagvormittag Richtung Tübinger Hauptbahnhof. „Es war eigentlich jeden Tag spannend“, sagt der 65-Jährige auf seiner letzten Fahrt, „man sieht jeden Tag etwas Neues, neue Leute. Ich hab‘ das immer mit Leib und Seele gemacht.“

Bei Verspätung nimmer lustig

Der größte Stress eines Lokführers aber erwischte auch ihn: Wenn etwas an der Lok nicht stimmte oder „am Wagenzug etwas verreckt, und die Leute sitzen einem im Genick, weil sie weiterfahren wollen.“ Da half ihm seine Gelassenheit: „Man steckt halt nicht drin in der Technik.“ Früher keilte er dann eben mal einen Magnetregler hoch oder überbrückte ein Bauteil: „Man musste halt wissen, was man macht.“ Mit der Elektronik in den modernen Zügen ist das vorbei.

Wie viele Hundertausende Reisende er durchs Land fuhr, kann Marsiske nicht sagen. Aber er mochte den Kontakt zu seinen Passagieren. In den Schienenbussen, mit denen er früher Schüler von Entringen nach Tübingen chauffierte, gab es noch keinen abgetrennten Führerstand: „Da hab‘ ich immer mit Staunen gehört, was die Kinder spät nachts alles noch im Fernsehen gesehen haben“. Auch später noch klopften immer wieder Leute an die Tür zum Lokführer oder sprachen ihn am Bahnhof an, es ergaben sich Unterhaltungen. „Nur wenn man Verspätung hatte, dann war es nimmer so lustig“, sagt er und lacht.

Der Fahrplan bestimmte das Leben

Lokführer sein, das bedeutet auch: Schichtarbeit. Über vier Jahrzehnte bestimmte der Fahrplan Marsiskes Leben. Er fuhr jedes zweite Wochenende, an Silvester, an Ostern, Weihnachten, morgens früh oder abends spät. „Da muss man auf einiges verzichten.“ Als junger Beamter verdiente er anfangs sehr wenig. „Das war ein bisschen über dem Sozialhilfesatz. Ich bewundere meine Frau, dass sie bei mir geblieben ist.“ Seine Frau Margret musste ihren Mann lange nicht nur mit seinem Beruf teilen. Denn noch etwas, das rollt, gehörte jahrelang zu seinem Leben: der Fußball. Marsiske kickte beim TSV Oferdingen, Kreisklasse A, dann Bezirksliga: „Entweder war ich im Geschäft oder beim Kicken.“

Zuletzt fuhr er vor allem in der Region: Von Stuttgart, seinem Lieblingsbahnhof, nach Tübingen oder Aulendorf, übers Donautal nach Ulm. Doch bevor 1993 das Eisenbahnneuordnungsgesetz die Deutsche Bundesbahn in Fernreise-, Regional- und Güterverkehrsunternehmen zergliederte, und Lokführer nicht mehr zwischen den Sparten wechseln konnten, lenkte er auch Reisezüge ins Salzburger Land oder ins Allgäu. Eine schöne Zeit: „Wenn man den ‚Mozart‘ von Wien nach Paris hatte, da haben die Leute an den Bahnhöfen noch bewundernd hochgeschaut.“ Und er zog mit seiner Lok lange Güterzüge, mit 1800 Tonnen hintendran. „Da muss man ein ganz anderes Gefühl für haben: Beim Bremsen schieben die Wagen einen, beim Anfahren muss man aufpassen, dass man sie nicht verreißt.“ Gerne hätte Marsiske sagen können, dass er all die Jahre unfallfrei fuhr. Aber bei so vielen Kilometern blieben die Kollisionen nicht aus: „Ich hab zehn Wildschweine erlegt, sechs Stück Rotwild und zwei Schäferhunde.“ Und auch der Horror aller Lokführer blieb ihm nicht erspart: Dass ein Mensch unter seinen Zug gerät. „Ich hatte gehofft, ich bringe meine Zeit so rum, aber dann kam es vor vier Jahren doch dazu.“

Abschied vom Blick auf die Gleise

Seine letzte Fahrt aber lief reibungslos. „Ein letztes Mal Lustnau“, sagt er, ein wenig wehmütig, als der Regionalexpress durch den kleinen Bahnhof rauscht und sich langsam seiner Endstation in Tübingen nähert. Dort warten bereits Familie und rund dreißig Kollegen, die eine Überraschungsparty zum Ausstand vorbereitet haben. Sie wird bis tief in die Nacht dauern.

„So, das war’s. Feierabend.“ Ein letztes Mal geht er nach hinten und legt den Hauptschalter seiner Lok um. Das Motorengeräusch erstirbt. Was er am meisten vermissen wird, nach 44 Jahren auf den Schienen? „Den Blick nach vorne auf die Gleise. Der wird mir fehlen.“

Seiner Liebe zur Bahn aber bleibt Marsiske treu. Nun, da er mit der Fahrt auf den großen Loks abgeschlossen hat, hat er wieder Zeit für die kleinen Züge. Seine Märklin H0 wartet. Die Anlage füllte früher mit ihren 20-Quadratmetern den Dachboden. Nach einem Umzug nach Nehren, als die Kinder mehr Platz brauchten, schrumpfte sie auf zwei Quadratmeter. Jetzt bestimmt er selbst den Fahrplan seines Alltags, die Anlage soll wieder wachsen. Seine vier Enkel und Enkelinnen freuen sich schon darauf.

Endstation Tübingen: Nach über 40 Jahren als Lokführer steigt Reimar Marsiske ein letztes Mal aus dem Führerstand seines Regionalexpresses, empfangen von 30 Freunden und Eisenbahnerkollegen, die ihn an Gleis 2 in den Ruhestand verabschieden. Bild: Ulrich Metz

Endstation Tübingen: Nach über 40 Jahren als Lokführer steigt Reimar Marsiske ein letztes Mal aus dem Führerstand seines Regionalexpresses, empfangen von 30 Freunden und Eisenbahnerkollegen, die ihn an Gleis 2 in den Ruhestand verabschieden. Bild: Ulrich Metz

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Erstellt:
21.12.2018, 01:30 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 10sec
zuletzt aktualisiert: 21.12.2018, 01:30 Uhr

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