Fragen und Antworten, Gerüchte und Zahlen

Ein Faktencheck zu Flüchtlingen

Was ist dran an den Urteilen über Asylsuchende, die zu uns kommen? Sind die meisten Wirtschaftsflüchtlinge? Muss man Angst vor ihnen haben? Bereichern sie sich?

17.10.2015

Von Von Sabine Lohr und Hannah Schlenker

»Deutschland nimmt die meisten Flüchtlinge auf.

Stimmt nicht. Laut UNO-Flüchtlingshilfe sind derzeit 60 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. Das ist die höchste Zahl, die jemals vom UNHCR (Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen) verzeichnet wurde. Über die Verteilung auf die einzelnen Länder liegen Zahlen nur aus 2014 vor. Die meisten Flüchtlinge (1,6 Millionen) hat die Türkei aufgenommen, gefolgt von Pakistan (1,5 Millionen), dem Libanon (1,2 Millionen), dem Iran (980 000), Äthiopien (660 000) und Jordanien (650 000).
Für Europa allerdings stimmt die Aussage. 2014 gab es in Deutschland 173 000 erstmalige Asylbewerber, in diesem Jahr waren es bis August 222 000 Flüchtlinge mit Asylerstantrag. In Schweden wurden im vergangenen Jahr 75 000 erstmalige Asylbewerber registriert, 2015 waren es 45 000. Ungarn verzeichnete dieses Jahr 143 000 Erstasylbewerber, 2014 waren es 41 000.

»So viele Asylanträge wie jetzt gab es noch nie.

Falsch. 1992 beantragten 438 000 Menschen in Deutschland Asyl – sie kamen vor allem aus dem Bürgerkriegsland Jugoslawien. In diesem Jahr wurden laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bis Oktober 303 000 Asylanträge in Deutschland verzeichnet. Baden-Württemberg nahm damals 52 000 Menschen auf – so viel wie bis September 2015.

»Die meisten Flüchtlinge sind Wirtschaftsflüchtlinge.

Falsch. Die meisten Flüchtlinge (41 Prozent), die nach Deutschland kommen, sind aus Syrien. Aus den Balkanstaaten stammen 23,1 Prozent. Diese Daten liefert das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Im Landkreis Tübingen stammten Ende August laut Landratsamt 41,4 Prozent der Flüchtlinge aus Balkanstaaten und 13,4 Prozent aus Syrien. Aus afrikanischen Staaten stammten 21,4 Prozent.

»Die holen doch alle noch ihre Familien nach. Die Zahl wird sich also noch vervierfachen.

Falsch. Familienzusammenführungen gibt es nur für Ehepartner und Kinder. Eltern, Großeltern, Geschwister, Onkels und Tanten dürfen nicht (legal) nachgeholt werden.


»Asylbewerber aus den Balkanstaaten sind Wirtschaftsflüchtlinge

Stimmt – wenn man unter einem „Wirtschaftsflüchtling“ einen Menschen versteht, der sein Land verlassen hat, weil er arm ist und keine Perspektive hat. Die Balkanstaaten sind tatsächlich arm. Das Bruttoinlandsprodukt 2014 liegt zwischen 2800 Euro (Kosovo) und 7800 Euro (Mazedonien) pro Person. In Deutschland liegt es bei 33 300 Euro.

In Deutschland bekommen alle Flüchtlinge in der Landeserstaufnahmestelle 143 Euro Taschengeld im Monat. Dieses Taschengeld wird künftig durch Sachleistungen ersetzt. In der Erstaufnahme-Unterkunft der Landkreise bekommen Flüchtlinge 359 Euro im Monat. Auch davon kann ein Teil durch Sachleistungen ersetzt werden.

Möglicherweise spielt diese Summe eine Rolle. Als 2011 die Geldleistungen für Asylbewerber erhöht wurden, stieg in der Folge die Zahl der Flüchtlinge aus dem Balkan. Allein aus Mazedonien kamen nach der Erhöhung des Betrags mehr als dreimal so viele Menschen nach Deutschland als davor. Aus Bosnien-Herzegowina kamen sogar fünfmal so viele.

»Flüchtlinge aus dem Balkan missbrauchen das Asylrecht.

Falsch. Flüchtlinge aus diesen Ländern werden in den meisten Fällen abgelehnt, denn sie kommen aus Staaten, die Deutschland zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt hat oder erklären wird. Asyl bekommt nur, wer politisch verfolgt wird. Dazu gehören auch viele Sinti und Roma.
Zwischen Januar und August 2015 wurden 99,7 Prozent aller Asylanträge von Menschen aus Serbien, Mazedonien, Albanien und dem Kosovo abgelehnt. Von den Flüchtlingen, die sich im August im Landkreis Tübingen aufhielten, stammten laut Landratsamt 41,4 Prozent aus einem Balkanstaat.

»Die meisten Flüchtlinge sind junge Männer.

Stimmt. Die baden-württembergischen Zahlen lassen sich auf Deutschland hochrechnen. Im Land waren 73 Prozent der Flüchtlinge Männer, 64 Prozent von ihnen sind zwischen 18 und 34 Jahre alt. Von den geflohenen Frauen sind 39 Prozent in diesem Alter.

»Die meisten Flüchtlinge sind Muslime.

Stimmt. Das Bundesamt für Migration liefert dazu nur Zahlen aus 2014. Von den 173 000 Flüchtlingen, die nach Deutschland kamen, waren 63 Prozent islamischen Glaubens und 25 Prozent Christen.

»Die meisten der geflüchteten Syrer sind gebildete Leute, die aus der Mittelschicht stammen.

Stimmt nicht. Laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat mehr als jeder fünfte syrische Flüchtling eine Universität oder Fachhochschule besucht, 22 Prozent waren auf einem Gymnasium. Von allen Flüchtlingen, die hierher kommen, haben 90 Prozent eine Schulausbildung, 16 Prozent besuchten ein Gymnasium, 15 Prozent eine Hochschule.

»Flüchtlinge bekommen mehr Leistungen als Hartz-IV-Empfänger.

Falsch. Einem Hartz-IV-Empfänger stehen 45 Quadratmeter Wohnfläche zu. Einem Flüchtling in den ersten 15 Monaten 7 Quadratmeter Wohn- und Schlaffläche. Allerdings ist dieser Anspruch aufgrund der hohen Flüchtlingszahl inzwischen wieder auf 4,5 Quadratmeter reduziert worden. Flüchtlinge sind, anders als Hartz-IV-Empfänger, nicht gesetzlich krankenversichert, nur bei akuten Schmerzen und Erkrankungen erhalten sie eine ärztliche Behandlung. Die Gesundheitskarte, die Ministerpräsident Winfried Kretschmann einführen will, berechtigt zu Arztbesuchen. Zusatzleistungen bekommen die Flüchtlinge damit nicht. Die finanziellen Leistungen pro Monat sind bei anerkannten Flüchtlingen und bei Hartz-IV-Empfängern gleich.

»Flüchtlinge nehmen uns die Arbeitsplätze weg.

Falsch. Flüchtlinge dürfen drei Monate, nachdem sie ihren Antrag auf Asyl gestellt haben, arbeiten. Allerdings bekommen sie nur Stellen, die kein deutscher Arbeitssuchender haben will. Wer anerkannt oder geduldet ist, kann ganz normal arbeiten. Laut Arbeitslosenstatistik für die Region Tübingen/Reutlingen waren im September 8,4 Prozent der Ausländer rbeitslos – im September 2014 betrug die Quote 7,6 Prozent. Allerdings schlüsselt die Agentur für Arbeit nicht nach Nationalitäten auf. Unter den Deutschen dagegen hat die Arbeitslosigkeit im selben Zeitraum abgenommen. Zudem sucht die Wirtschaft Arbeitskräfte. Wie sich die Anzahl derjenigen, die Asyl bekommen, auf den Arbeitsmarkt auswirkt, ist nicht abzusehen. Es gibt unterschiedliche Einschätzungen – manche sehen die Flüchtlinge als Chance für die Wirtschaft, andere als Konkurrenz.

»Flüchtlinge nehmen Wohnungen weg.

Stimmt. Die Kommunen müssen dafür sorgen, dass ein anerkannter Flüchtling eine Wohnung bekommt, weil er sonst obdachlos wäre. In Städten wie Tübingen, wo der Wohnungsmarkt ohnehin angespannt ist, ist das ein Problem. Die Bundesregierung hat zugesagt, den Ländern 500 Millionen Euro für sozialen Wohnungsbau zu geben, um dieses Problem anzugehen.
Um Sozialwohnungen bewerben sich aber auch andere sozial schwache Bürger. Gerhard Breuninger, Geschäftsführer der Gesellschaft für Wohnungs- und Gewerbebau Tübingen (GWG), versichert, dass bei der Vergabe von Wohnraum „bei Flüchtlingen keine Einzelpersonen bevorzugt“ würden. Wenn Asylbewerber in die Datei für Wohnungslose aufgenommen werden, vergebe die GWG „im Rahmen des üblichen Verfahrens Wohnraum“. Es gibt eine Rangliste nach verschiedenen Kriterien, sie ist verbindlich.

»Flüchtlinge sind kriminell, man kann Frauen und Kinder nicht in ihre Nähe lassen.

Falsch. Björn Reusch, Pressesprecher des Polizeipräsidiums Reutlingen, sagt, dass „ein Generalverdacht gegenüber Flüchtlingen oder die Meidung der Nähe von Flüchtlingsunterkünften unbegründet ist.“ In Ergenzingen, wo seit Mitte September in einer Gewerbehalle eine große Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber ist, sei „im Fünf-Jahresvergleich kein signifikanter Deliktanstieg feststellbar“. Wenn Flüchtlinge eine Straftat begehen, geschehe das „sehr selten außerhalb der Einrichtung“, deutsche Bürger seien davon kaum betroffen. Wenn die Polizei gerufen wird, dann geht es meistens um Schlägereien zwischen Flüchtlingen.
Die Polizei im Zollern-Alb-Kreis, die für die Landeserstaufnahmestelle (LEA) in Meßstetten zuständig ist, bestätigt die Beobachtung Reuschs. Im Gemeinderat Meßstetten sagte Thomas Krebs, Leiter des Polizeireviers Albstadt, auf dem Gelände der LEA komme es zwar immer wieder zu Diebstählen, Körperverletzungen, Beleidigungen und Sachbeschädigungen. Schwere Vorfälle habe es aber noch keine gegeben. Lediglich die Ladendiebstähle seien angestiegen. Allerdings überschritten diese nur selten Warenwerte über 10 Euro.

»Die haben doch alle ein Smartphone.

Stimmt. Flüchtlinge brauchen ein Smartphone. Zum Einen, weil es die einzige Möglichkeit ist, Kontakt zur Familie und zu Freunden in der Heimat zu halten. Zum Anderen tauschen sich Flüchtlinge auf ihrem Weg über Fluchtrouten aus. Manche nutzen das Smartphone auch, um deutsch zu lernen. Außerdem ist es ein Zeitvertreib.

»Flüchtlinge tragen gute Kleidung, bedürftig sind die nicht.

Gute Kleidung: Richtig. Nicht bedürftig: Falsch. Flüchtlinge bekommen gebrauchte Hosen, Pullis und andere Kleidung als Spenden. Asylbewerber erhalten wie andere Bedürftige (Sozialhilfeempfänger, Obdachlose) gegen einen kleinen Preis im Kleiderladen Kleidungsstücke. Das DRK legt Wert darauf, dass diese noch gut erhalten sind, damit nicht sofort erkennbar ist, wer auf gespendete Kleidung aus zweiter Hand angewiesen ist. Es komme oft vor, dass Markenklamotten im Kleiderladen abgegeben werden. „Bedürftig“ sind Flüchtlinge in der Regel genauso wie Sozialhilfeempfänger.