Radeln durch die Fußgängerzone

Tübinger Kornhausstraße jetzt frei für Fahrradfahrer

Seit Freitag dürfen Fahrradfahrer in Tübingen auf der Ost-West-Achse fahren. „Rigoros“ wird geahndet, wer zu schnell unterwegs ist.

01.03.2019

Von Lisa Maria Sporrer

Kornhausstraße frei für Fahrradfahrer
© Video: Lisa Maria Sporrer & Hans-Jörg Schweizer 02:53 min
Die Fußgängerzone in der Tübinger Kornhausstraße ist jetzt auch für Fahrradfahrer freigegeben.
Irritiert stieg Gerhard Müssle von seinem Rad und studierte die Schilder, die am Eingang der Kornhausstraße hängen. „Das Fahrrad ist ja durchgestrichen“, sagte er. „Aber ab heute darf ich hier doch durchfahren, oder?“ Den Klebestreifen, der das Schild „Fahrräder frei“ durchkreuzte, wurde erst um 10 Uhr von Oberbürgermeister Boris Palmer öffentlichkeitswirksam von dem Schild entfernt.

In der Tübinger Kornhausstraße, bisher reine Fußgängerzone, ist seit Freitag, 1. März, das Radfahren im Schritttempo erlaubt. Zwei Monate lang soll erprobt werden, ob ein friedliches Nebeneinander von Fußgängern und Radfahrern an der Ost-West-Achse möglich ist. „Es gab einen großen Aufschrei für einen kleinen Versuch“, sagte Palmer, der selber mit dem Rad durch die Kornhausstraße fuhr. „Dabei ist das nicht neu in Deutschland und auch nicht in Tübingen. Beim Osiander Richtung Piccolo“, also in der Metzgergasse, „stört es niemanden, dass sich dort Fahrradfahrer und Fußgänger die Straße teilen“, so Palmer. „Rücksichtnahme reicht. Mehr braucht es ja nicht.“

In der Kornhausstraße aber sammelten die ansässigen Einzelhändler Unterschriften gegen den Radverkehr vor ihren Geschäften. Von Rücksichtslosigkeit war in einem Brief die Rede, von Unfällen mit Fußgängern und von wehrlosen Kindern. Rücksichtslos radelte am Freitagvormittag allerdings niemand erkennbar durch die Kornhausstraße. Irmgard Lersch etwa stieg auf Höhe des Museums von ihrem Fahrrad ab. „Hier sind einfach zu viele Fußgänger unterwegs. Das ist eine belebte Fußgängerzone, da macht es keinen Sinn zu fahren“, sagte sie. „Ich halte diesen Vorstoß auch nicht für notwendig.“

Mit dieser Meinung stand die Frau nicht alleine da. Noch während Palmer für die Presse ein Statement abgab, kamen Passanten auf ihn zu und gaben ihm lautstark zu verstehen, dass sie von der neuen Regelung rein garnichts halten. „Ich kann das nicht verstehen“, sagte Hans Karl. „Man war froh, dass man eine Fußgängerzone hat, und jetzt macht man sie wieder auf für die Radfahrer. Ich glaube nicht, dass das funktionieren kann.“

Auch Müssle, der sich am Morgen noch über die Schilder gewundert hatte, hält nicht viel von der Freigabe für Radler. „Wer schnell sein will, der fährt doch besser durch die Froschgasse, am Bürgeramt vorbei, in die Schmiedtorstraße. Hier darf man ja nur im Schritttempo fahren. Da kippt man ja fast um.“

Seit Freitag ist das Fahrradfahren in der Kornhausstraße erlaubt. Vorerst aber nur als Testphase. Bilder: Lisa Sporrer

Seit Freitag ist das Fahrradfahren in der Kornhausstraße erlaubt. Vorerst aber nur als Testphase. Bilder: Lisa Sporrer

Zu der Frage, wie schnell Schritttempo tatsächlich ist, gibt es mehrere Meinungen. Richard Hess, Leiter des städtischen Fachbereich Sicherheit, sprach von bis zu 9 km/h. „Wir legalisieren damit hier nur, was ohnehin schon praktiziert wurde“, sagte er zum Radverkehr. Kim Dreher vom städtischen Vollzugsdienst, die in den kommenden Wochen den Verkehr in der Kornhausstraße kontrollieren wird, sprach gar von 8 bis 16 km/h. „Wenn die Fahrradfahrer hier zu schnell fahren oder die Fußgänger gefährden, werden wir jetzt erstmal darauf hinweisen“, sagte Dreher. „Es ist ein bisschen ein Streitthema, aber wir werden es hinbekommen.“

Ab der zweiten Märzwoche werden Vergehen dann verfolgt: 15 Euro werden für zu schnelles Fahren fällig. Bisher wurde in den städtischen Fußgängerzonen immer mal wieder ein Auge zugedrückt. Es blieb bei Verwarnungen und unregelmäßigen Kontrollen. Dieses Argument führte Palmer an, um auch den Fußgängern, die mit der Regelung in der Kornhausstraße unzufrieden sind, entgegenzukommen. „Für alle, die sich über meine Politik ärgern, sei gesagt: das hier ist eine Kombilösung.“ Er biete Radlern nun ein gut nutzbares Angebot. Bisher, gab er zu, habe er sich gescheut, die fällige Strafgebühr für Radler konsequent durchsetzen zu lassen. Jetzt aber, und das sei der Vorteil für die Fußgänger, „setzen wir die Kontrollen hier radikal und rigoros mit einem hohen Personaleinsatz durch.“

Die Kritiker beruhigt das bisher wenig: Ali Cihan vom Orient Döner an der Ecke Judengasse kann die Entscheidung der Stadtverwaltung überhaupt nicht verstehen. Vor seinem Laden seien schon so viele Unfälle passiert, berichtet er. „Fahrradfahren hier ist nicht gut.“ Blanca de Rodriguez Schwarz von „Tokapu“ sammelt mittlerweile nicht nur Unterschriften von Einzelhändlern, sondern auch von Bürgern. Während vor ihrem Geschäft die Fahrradfahrer vorbeifuhren, kamen immer wieder Passanten bei ihr rein und fragten, wo sie unterschreiben können.

Um 10 Uhr wurde am Freitag der Klebestreifen von dem Schild entfernt und damit die Kornhausstraße offiziell für Radler freigegeben.

Um 10 Uhr wurde am Freitag der Klebestreifen von dem Schild entfernt und damit die Kornhausstraße offiziell für Radler freigegeben.

„Die Kornhausstraße ist eine der schönsten und attraktivesten Einkaufstraßen, die es in Tübingen überhaupt noch gibt“, sagte Cornelia Niederdrenk-Felgner, die bei Rodriguez Schwarz unterzeichnet hatte. „Ich finde das völlig idiotisch, dass hier jetzt auch noch die Fahrradfahrer durchfahren dürfen. Das wird nicht gut gehen, weil es viel zu eng ist.“

Dass Palmer die neue Radregelung in der Kornhausstraße ohne Zustimmung des Gemeinderats durchsetzen konnte, kann Rodriguez Schwarz bis heute nicht verstehen. „Palmer macht einfach Sachen von oben nach unten, ohne zu fragen. Das ist nicht korrekt.“ Die neue Liste für Bürger war übrigens nicht ihre Idee, sagt sie. „Die Leute kamen rein und wollten unterschreiben, deshalb habe ich noch eine Unterschriftenliste angelegt.“

Innerhalb von drei Stunden fanden sich in der Kornhausstraße nur zwei Tübinger, die sich für den neuen Radverkehr aussprachen: Ute Woeckner und Friedhelm Schwarz. „Woanders funktioniert das ja auch gut. Wir wären aber auch schon mit einem Kompromiss zufrieden gewesen. Vielleicht reicht es ja auch, zwischen 18 Uhr und 10 Uhr das Radfahren hier freizugeben“, sagte Woeckner, die ihr Rad übrigens auch durch die Kornhausstraße schob.

Ein Plan zeigt, wo man radeln darf und wo nicht

Mitte Januar hatte die Stadtverwaltung dem Gemeinderat schriftlich mitgeteilt: „Um eine für Radfahrende attraktive Ost-West-Verbindung innerhalb der Altstadt zu schaffen und damit den Radverkehr weiter zu fördern, beabsichtigt die Verwaltung, die Kornhausstraße im Nord-Westen der Fußgängerzone ab dem 1. März versuchsweise für Radfahrende frei zu geben.“ Am Eingang der Kornhausstraße hängen nun Plakate, die zeigen, wo in der Altstadt das radeln erlaubt ist und wo nicht.

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Erstellt:
01.03.2019, 20:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 56sec
zuletzt aktualisiert: 01.03.2019, 20:00 Uhr

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