Mit Engelszungen

Drahtlos im Großen Saal

Zu Beginn der letzten Sitzung vor der Sommerpause hatte Thomas Reumann im Großen Sitzungssaal des Landratsamtes eine Überraschung für die Kreisrätinnen und Kreisräte mitgebracht: Er zeigte auf einen kleinen unscheinbaren weißen Kasten: „Ab sofort haben wir hier WLAN.“ Allerdings, so der Landrat, werde er den Zugangscode erst nach der Sitzung bekannt geben. Denn die Tagesordnung war lang und vor allem der erste Tagesordnungspunkt – ein komprimiertes Referat des Sozialwissenschaftlers Ulrich Bürger über „Kinder- und Jugendhilfe im demografischen Wandel“ – erforderte die volle Aufmerksamkeit der Kreistagsmitglieder.

04.08.2016

Von Uschi Kurz

Reumann hatte freilich noch kaum ausgesprochen, da hatte sich CDU-Kreisrat Michael Donth die Zugangsdaten bereits besorgt. Die nächsten Minuten war der technikaffine Bundestagsabgeordnete, der in den Sitzungen ohnehin gerne pausenlos mit seinem Tablet oder dem Handy hantiert, damit beschäftigt, draht- und kostenlos ins Netz zu gehen, was ihm auch gelang.

Und während Ulrich Bürger von spektakulären demografischen Entwicklungen berichtete, die auch im Landkreis Reutlingen schon bald dazu führen werden, dass Kinder, Jugendliche und Familien „ein ganz knappes Gut werden“, schäkerte der gewählte Volksvertreter mit seinen Nachbarn und schoss Handy-Bilder.

Unterdessen erklärte der Sozialforscher, warum Kinder und Jugendlichen mehr denn je auf Unterstützung angewiesen sein würden. Womit sie in Konkurrenz zu der Gesellschaftsgruppe treten, die zahlenmäßig immer mehr werden, die Senioren. Die derzeitigen Ruheständler, so Bürger, seien „die wohl wohlhabendste Rentnergruppe.“ Eine Gruppe, die großen Einfluss auch auf die künftigen Politiker/innen haben werde. Gleichzeitig würden die Erwerbstätigen immer weniger, die die zahlenmäßig erstarkende Gruppe der Alten versorgen muss.

Trotzdem blickt der Sozialwissenschaftler, der dem Landkreis im übrigen ein durchaus gutes Zeugnis bezüglich der Kinder- und Jugendhilfe ausstellte, keineswegs pessimistisch in die Zukunft. Zum einen, weil noch genug Zeit bleibe, die richtigen Weichen zu stellen, damit auch jene jungen Erwachsenen aus schwierigen Verhältnissen in den Arbeitsmarkt integriert werden, die heute noch außen vor bleiben. Zum anderen, weil die Zuwanderung die verhängnisvolle Entwicklung stoppen könne. Zum Zeitpunkt dieses Resumées hatte Kreisrat Donth den Saal übrigens längst verlassen.

Kräftigen Gegenwind aus der CDU-Fraktion erhielt Bürger gleichwohl. Kreisrat Erich Herrmann mochte die Zuwanderung nicht als Chance erkennen: „Die kostet uns nur eine Menge Geld. Gelder, die uns anderswo fehlen.“ Der Referent widersprach aber vehement. Der wirtschaftliche Erfolg des Landes sei durch die Zuwanderung überhaupt erst möglich gewesen: „Die Zuwanderung bringt sehr viel mehr als sie kostet“, meinte er unter großem Beifall vor allem der Mitte-Links-Fraktionen.

Zum nächsten Tagesordnungspunkt, bei dem es um den Geschäftsbericht der Kreissparkasse ging, nahm der Gast aus Berlin dann wieder auf seiner Bank Platz. Bleibt anzumerken, dass der Bundestagsabgeordnete das Glück hat, dass die Sitzungstermine im Kreistag fast immer auf seine sitzungsfreie Wochen in Berlin fallen. Somit kann er problemlos seinen Verpflichtungen im heimatlichen Wahlkreis nachkommen. Künftig sogar drahtlos.