Tübingen

Diskussion um Kita-Zeiten: OB Palmer schreibt Ministerin Schopper

Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer hat sich nach dem Tübinger Gemeinderatsbeschluss an Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) gewandt.

09.02.2023

Von ST

Oberbürgermeister Boris Palmer. Archivbild: Ulmer

Oberbürgermeister Boris Palmer. Archivbild: Ulmer

Der Brief im Wortlaut

Sehr geehrte Frau Ministerin,

schon im letzten Sommer habe ich mich mit der dringenden Bitte an Sie gewandt, den Einsatz der Zusatzkräfte in den Kitas weiterhin wie in der Pandemie zu erlauben. Dankenswerterweise wurde die Regelung nicht ganz gestrichen, aber der Kompromiss, den Ihr Staatsekretär Volker Schebesta im Herbst verkündet hat, erweist sich als faul und nicht tragfähig.

Bekanntlich dürfen Zusatzkräfte seither nur noch im Doppelpack eingesetzt werden. Konnten wir in der Pandemie die zweite Fachkraft 1:1 durch eine Zusatzkraft ersetzen, so müssen jetzt zwei Zusatzkräfte gleichzeitig anwesend sein, um den Betrieb einer Kita-Gruppe weiterführen zu dürfen, wenn nur noch eine Fachkraft verfügbar ist. Was nach einer maßvollen Regelung klingt, reduziert die Einsatzfähigkeit von Zusatzkräften nicht, wie man annehmen könnte, um 50%, sondern um über 90%. Zusatzkräfte sind nie Vollzeitkräfte. Sie decken Randzeiten ab und arbeiten meist in kleinen Deputaten, oft nur an bestimmen Tagen. Es ist nahezu unmöglich, diese Kräfte zu einem Doppel zusammenzuspannen, das den Kitabetrieb weiterführen darf. Im Ergebnis haben wir von über 50 Zusatzkräften vor einem Jahr gerade noch drei einsetzbare Tandems retten können. Was am grünen Tisch vielleicht ganz gut aussah, ist in der Wirklichkeit mal wieder völlig unpraktikabel.

Wie von den Kommunen vorhergesagt, hat die Reglementierung der Zusatzkräfte die Kitas in Chaos gestürzt. Der ohnehin gravierende Personalmangel wurde von einem Tag auf den anderen drastisch verschärft. Gruppenschließungen und kurzfristige Verkürzungen der Öffnungszeiten waren in diesem Kitajahr in den meisten Städten im Land an der Tagesordnung.

Der Gemeinderat der Universitätsstadt Tübingen hat sich daher gezwungen gesehen, die Öffnungszeiten der Kitas im kommenden Jahr erheblich zu reduzieren. Die Eltern haben dagegen mehrere Großdemonstrationen mit bis zu 700 Teilnehmern organisiert. Der Unmut ist groß. Befürchtet wird ein erzwungener Rückfall in althergebrachte Rollenmodelle und eine Einschränkung der Berufstätigkeit von Eltern.

In der Tat kann es volkswirtschaftlich betrachtet in Zeiten des allgemeinen Fachkräftemangels keinen größeren Unsinn geben, als Eltern zur Einschränkung ihrer Berufstätigkeit zu zwingen. Wir erleben in Tübingen leider schon jetzt in Kitas mit besonderem Personalmangel, dass hoch

qualifizierte Beschäftigte, zum Beispiel Wissenschaftlerfamilien bei Max Planck, kurz davor stehen, der Stadt und dem Land den Rücken zu kehren, weil Familie und Beruf nicht mehr vereinbar sind. Zu befürchten ist auch, dass der Verlust an Sicherheit und Qualität in der Kinderbetreuung gerade bei qualifizierten Beschäftigten dazu führt, dass der Kinderwunsch zurückgestellt oder aufgegeben wird. Wir haben in Tübingen einen Boom bei den Geburten erlebt, als die Kinderbetreuung Anfang des letzten Jahrzehnts verlässlich und bedarfsdeckend wurde: Mit einer Ganztagsbetreuungsquote von 60% ist Tübingen seither bundesweit spitze. Die Kinderzahl pro Jahrgänge ist um mehr als 10% angestiegen.

Nun erleben wir die gegenläufige Entwicklung: Die Geburtenzahl in Tübingen ist im Jahr 2022 regelrecht eingebrochen: von im Schnitt 830 Kindern in den letzten fünf Jahren auf nur noch 718. Das ist ein Rückgang von 12%! Es lässt sich nicht beweisen, dass die Kinderbetreuungssituation

dafür die Ursache ist, aber die Parallele in Anstieg und Rückgang der Geburtenzahl zur Situation in den Kitas ist zumindest bemerkenswert.

Ohne Zweifel gilt: Volkswirtschaftlich und familienpolitisch sind die Einschnitte in die Kinderbetreuung viel schädlicher als der Einsatz von Zusatzkräften in den Kitas wie er in der Pandemie praktiziert wurde und erlaubt war. Ich möchte daher erneut an Sie appellieren, den Einsatz von Zusatzkräften im Team mit einer Fachkraft wieder ohne Einschränkung zu gestatten. Das ist unsere einzige Chance, bis zum Herbst Personal zu finden, das uns zumindest teilweise erlaubt, die nun beschlossene Verkürzung der Regelöffnungszeiten wieder zu lockern. Auch in den

kommenden Jahren wird es landesweit unmöglich sein, alle Fachkraftstellen zu besetzen. Das macht deutlich, dass der Einsatz von Zusatzkräften solange notwendig ist und gestattet werden muss, wie die Fachkraftnot nicht behoben werden kann.

Anstrengungen dafür unternimmt Tübingen übrigens weit über das normale Maß hinaus. In der Praxisintegrierten Ausbildung befinden sich derzeit 77 Personen. Wir haben deren Zahl in einem Jahrzehnt verzwanzigfacht und bilden nun über Bedarf aus. Wenn alle Träger so verfahren würden, könnten wir das Problem in wenigen Jahren lösen.

Ich sehe das Land ganz besonders in der Pflicht, den Kommunen mehr Freiheiten zur Lösung ihrer Probleme zu geben, weil eine weitere Entscheidung des Kultusministeriums die Lage vor Ort erheblich verschärft hat: Die Vorverlegung des Stichtags für die Einschulung vom 30. September auf den 30. Juni hat die Zahl der Kinder in den Kitas um drei Geburtsmonate vergrößert. Das entspricht einer Erhöhung der Kinderzahl durch längeren Verbleib um 8%.

Ein Verzicht auf diese Verschiebung der Personalprobleme aus den Grundschulen in die Kitas hätte uns in Tübingen vor den aktuellen Problemen komplett verschont, denn uns fehlen etwa 8% der Fachkräfte zur Vollbesetzung. Sie könnten mit einer Rückverlegung des Stichtags um einen Monat zum kommenden Schuljahr also einen weiteren wichtigen Beitrag zur Entspannung der Situation in den Kitas leisten und dringend benötigte Plätze durch einen Wechsel sechsjähriger Kinder in die Grundschulen frei machen.

Sehr geehrte Frau Ministerin, Sie sind aus guten Gründen auf der Suche nach kreativen Lösungen für den Lehrermangel an den Schulen. Bitte verwehren Sie den Kommunen nicht, dasselbe zu tun, indem an starren Regeln festgehalten wird. Wir in den Rathäusern müssen den zurecht empörten und frustrierten Eltern Rede und Antwort stehen. Stuttgart ist hingegen weit. Deshalb müssen wir die Möglichkeiten erhalten, sinnvoll zu handeln. Befreien Sie uns aus dem Schraubstock der Bürokratie.

Mit freundlichen Grüßen

Boris Palmer, Oberbürgermeister

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Erstellt:
09.02.2023, 12:22 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 51sec
zuletzt aktualisiert: 09.02.2023, 12:22 Uhr

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