Kino
Digitales Fest der Schöpfung
Es müssen nicht immer Netflix und Co. sein: Das Trickfilm-Festival Stuttgart läuft derzeit online und präsentiert die große Vielfalt des Mediums.
Stuttgart. Gott ist alleinerziehender Programmierer. Klein-Christ und Klein-Antichrist lenken den himmlischen Vater ständig von der Arbeit ab. Die Folge: Chaos auf der digital erschaffenen Erde. Dinosaurier fressen Menschen. Entnervt löscht Gott sein Werk – und fängt wieder bei Adam und Eva an.
Das ist die Geschichte von „ Tales from the Multiverse “. Der Kurzfilm aus dem dänischen Tumblehead Animation Studio ist einer von hunderten Filmen, die bis einschließlich Sonntag in der Online-Version des Internationalen Trickfilm-Festivals Stuttgart (ITFS) als Stream verfügbar sind. Das Angebot bietet eine willkommene Abwechslung von Portalen wie Netflix oder Disney und zeigt die enorme Vielfalt und Kreativität der Animationsfilmbranche abseits großer Studios.
Gott als Programmierer: das ist einerseits eine lustige Idee, andererseits eine Bezugnahme auf den Animationsfilm selbst. Macht es doch gerade den Reiz des Mediums aus, dass der Macher seine Bildwelten mit eigener Hand erschafft – am Bildschirm, Zeichentisch oder mit Puppen. Diese künstlerische Freiheit zeigt das ITFS-Programm in allen Facetten.
Menschen werden zum Tier
Animationsfilme unterhalten nicht nur, sondern sind auch in der Lage, durch Umkehrungen gesellschaftliche Beziehungen humorvoll zu hinterfragen. Das zeigt sich besonders bei dem Thema „Mensch und Natur“ – erstmals eine eigene Wettbewerbskategorie im Stuttgarter Festival. Zum Beispiel in „ Human Nature “. Nackte menschliche Puppen räkeln sich auf der Fensterbank, urinieren auf den Teppich oder werden am Strand angespült, wo sie einen Schwall Plastikmüll erbrechen. Erst nach einigen Sekunden hat man verstanden: Mensch und Tier haben die Rollen getauscht.
Eine Warnung vor den Folgen des Klimawandels formuliert der Kurzfilm „ Wade “. In der überschwemmten indischen Großstadt Kalkutta kämpfen Menschen und Tiger ums Überleben.
Die Filmauswahl des ITFS zeigt auch: Trickfilme sind politisch engagiert. Besonders deutlich wird das an der teilweise gezeichneten Dokumentation „ Zero Impunity “, die den systematischen Einsatz von Vergewaltigung und sexueller Demütigung während der Kriege im Irak, in Syrien, der Ukraine oder auf dem afrikanischen Kontinent anprangert. Hie zeigen die animierten Bilder ihr Potenzial: Sie können Augenzeugen ein Gesicht geben, die nicht vor die Kamera treten können oder wollen, und illustrieren behutsam die schrecklichen Erlebnisse der Opfer. Sie können Empathie erzeugen, ohne voyeuristisch zu sein.
Belastende Themen einfühlsam zu transportieren – ob für Erwachsene oder Kinder –, ist ohnehin eine der Kernkompetenzen des Trickfilms. Klassiker wie Disneys „König der Löwen“ versuchen Phänomenen wie Alter, Krankheit und Tod ihren Schrecken zu nehmen. Zudem werben viele Streifen für Toleranz bei ihren kleinen Zuschauern, indem sie Figuren mit Handicaps in den Mittelpunkt stellen.
Eine der Europapremieren des ITFS, „ A Costume for Nicolas “ des mexikanischen Regisseurs Eduardo Rivero, geht gleich beides an: Die Handlung dreht sich um den zehnjährigen Nicolas, der das Down-Syndrom hat und den Verlust seiner Mutter verarbeiten muss.
Ein Glück: Da Trickfilme oft mehr auf Bilder als auf Dialoge setzen, sind viele ausländische Produktionen ohne Übersetzung verständlich. Wie sich Gott im Homeoffice mit Kindern fühlt, können derzeit ohnehin viele Zuschauer nachvollziehen.