Corona

„Diese Zahl ist hoch problematisch“

Die Inzidenzen allein reichen nicht, sagt der Chef des renommierten IQWIG-Instituts. Die Regierung müsse auch andere Werte berücksichtigen.

18.03.2021

Von IGOR STEINLE

„Diese Zahl ist hoch problematisch“

Berlin. Jürgen Windeler leitet das unabhängige „Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen“. Das IQWIG gilt als wichtigste Institution der medizinischen Qualitätssicherung. Es prüft Therapien und Medikamente auf ihre Wirkung. Seit Beginn der Corona-Pandemie habe noch kein Politiker nach seiner Einschätzung gefragt, sagt Windeler. Dabei fehlten weiter wichtige Erkenntnisse im Kampf gegen das Virus.

Herr Windeler, welche Wissenslücken haben wir?

Jürgen Windeler: Es gibt immer noch große Lücken in der Frage der Ansteckungswege, welche Berufsgruppen besonders betroffen, welche Situationen besonders gefährlich sind. Es gibt zwar Modellrechnungen, aber wenig Empirie, meist aus dem Ausland. Nach wie vor gibt es Wissenslücken bei der Wirksamkeit der Therapien und auch bei der Wirksamkeit der allgemeinen Maßnahmen. Wir wissen nach einem Jahr einfach sehr viel nicht, nicht einmal, wie weit wir sinnvoll Abstand halten sollten.

Welche Daten bräuchten wir?

Sehr früh im vergangenen Jahr hat es den Vorschlag gegeben, eine große Kohortenstudie mit infizierten Menschen durchzuführen. Hätte man das getan, wüsste man heute etwas über Immunitätsverläufe, darüber, wer wen ansteckt und man hätte sehr viel früher eine genauere Sterblichkeitsrate gekannt. Ebenfalls hätte man die Berufe und das Umfeld der Erkrankten erfassen können. Im Gesundheits- und Erziehungsbereich hat man dazu einige Daten, bei Handwerkern, Kassiererinnen oder Busfahrerinnen hingegen weiß man nicht, ob sie einem besonderen Risiko ausgesetzt sind.

Was wäre, wenn wir das wüssten?

Nehmen wir den Lockdown: Wüsste man, wie groß die Ansteckungsgefahr im Einzelhandel, in der Kirche oder im Fußballstadion ist, könnte man im besten Fall differenziertere Entscheidungen treffen. Natürlich muss auf dieser Basis aber auch eine politische Abwägung erfolgen. So können wir etwa davon ausgehen, dass das Risiko, sich beim Golfspielen anzustecken, bei nahezu null liegt. Trotzdem wird wohl kein Politiker Fußballstadien, Tennisplätze und Kindergärten schließen, Golfplätze aber offenlassen.

Zahlen der Uni Oxford zeigen, dass Schweden, wo es keinen harten Lockdown gab, in Sachen Übersterblichkeit nicht schlecht da steht.

Auch wenn man den Eindruck hat, dass Schweden nicht mehr der Buhmann Europas ist, halte ich es für zu früh, Bilanz zu ziehen. Es kommt auch immer darauf an, wie solche Berechnungen angestellt werden. Aber klar ist, dass die Belastungen der einzelnen Länder in Sachen Inzidenzen (Sieben-Tage-Wert der neuen Corona-Infektionen auf 100 000 Einwohner) , Sterblichkeit und der Belastung des Gesundheitssystems oft nicht mit den beschlossenen Maßnahmen zusammenpassen. Manche fahren einen harten Lockdown und kommen dabei gut weg, andere nicht, da gibt es viele Kombinationen. Man kann aber auf jeden Fall nicht sagen, dass diejenigen, die das Leben am schärfsten heruntergefahren haben, am besten durch die Pandemie kommen.

Das Robert Koch-Institut warnt, dass die Inzidenz zu Ostern höher als an Weihnachten sein könnte. Intensivmediziner fordern, Öffnungen zurückzunehmen. Was sagen Sie?

Auf diese Frage kann ich nicht neutral antworten. Auch wir Wissenschaftler sind geprägt von unserer individuellen Mentalität und unseren allgemeinen Einstellungen zum Leben und zu Risiken.Ich persönlich habe wenig Verständnis dafür, dass jungen Menschen, und ich schließe hier Studierende ein, nicht endlich wieder die Chancen auf Bildung eröffnet werden, die sie dringend benötigen. Ich kann zwar versuchen, die Sorgen der Verantwortlichen nachzuvollziehen, aber meine Neigung, Öffnungen zurückzunehmen, ist sehr begrenzt.

Sie fürchten hohe Inzidenzen nicht?

Ich verstehe nicht, wie man davon überrascht sein kann, dass die Infektionszahlen steigen, wenn man Öffnungen betreibt. Das ist bei einem grassierenden Virus quasi ein Naturgesetz. Die Frage ist doch vielmehr, wie viel den Menschen Bildung, Kultur oder ein „normales“ Leben wert sind. Da erscheint es mir angemessener, darauf hinzuweisen, dass die Pandemie nicht vorbei ist und man sich nach den Regeln, die alle kennen und fast alle befolgen, verantwortungsvoll verhalten >

Jürgen Windeler. Foto: Ralf Baumgarten/IQWIG

Jürgen Windeler. Foto: Ralf Baumgarten/IQWIG

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Erstellt:
18.03.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 54sec
zuletzt aktualisiert: 18.03.2021, 06:00 Uhr

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