Gast der Woche: Martin Göth

Diese Kinder sieht man nicht

Der Psychologe Martin Göth hat KiKe aufgebaut, ein Projekt, das Kindern von krebskranken Eltern hilft und jetzt selbst Hilfe braucht.

16.12.2017

Von Ulrich Janßen

Der Psychologe Martin Göth mit „Pelle“, einer Puppe, die ihm die Kontaktaufnahme zu kleineren Kindern erleichtert.Bild: Faden

Der Psychologe Martin Göth mit „Pelle“, einer Puppe, die ihm die Kontaktaufnahme zu kleineren Kindern erleichtert.Bild: Faden

Immer mit Krankheit und Tod konfrontiert zu werden: Wie hält man das aus? „Mir kommen auch manchmal die Tränen, wenn es sehr traurig ist“, sagt Martin Göth, „aber ich bleibe
immer im professionellen Setting und verliere nie den Boden.“ Göth ist Psychologe bei der Psychoonkologischen Beratungsstelle des Südwestdeutschen Tumorzentrums und begleitet Menschen mit Krebs.

Von der „professionellen Distanz“, die von Psychologen früher erwartet wurde, hält der 56-Jährige wenig. „Ich rede lieber von professioneller Nähe“, sagt er. Empathie und Anteilnahme gehören für ihn zu seiner Arbeit dazu. Eines allerdings ist wichtig. Hilflos darf er als Therapeut niemals wirken: „Das Gespräch darf mir nicht entgleiten, da passe ich auf.“

Göth weiß noch genau, wie er zu seinem Beruf gekommen ist. Es war im Religionsunterricht in der elften Klasse. Da hörte er das erste mal davon, dass es „Hospize“ gibt, Einrichtungen, in denen Kranke würdevoll und gut versorgt sterben können. „Das hat mich sofort interessiert“, sagt er. Schwerkranken und Sterbenden zu helfen,
das ist für eine besonders sinnvolle Arbeit, „etwas Wesentliches“, findet er.

Schon während des Studiums der Biologie und der Psychologe arbeitete er nebenher in einem Hospiz. Danach war er zunächst als Biologe unterwegs, als Gutachter für den Naturschutz. Doch merkte er bald, dass seine eigentliche Berufung der Umgang mit Menschen in existenziellen Krisensituationen ist. So wurde er Psychologe an der Freiburger
Universitäts-Kinderklinik. 2002 wechselte er nach Tübingen zum Psychoonkologischen Dienst. Dort fiel ihm bald etwas auf: Ärzte oder Pflegekräfte sprachen viel über die Kranken, wollten helfen und heilen, doch niemand kam auf den Gedanken, dass nicht nur die Patienten selbst Hilfe benötigten, sondern auch ihre Kinder. „Die werden nicht gesehen“, stellte Göth fest. Dabei müssen sie damit zurecht kommen, dass plötzlich das ganze Familienleben auf den Kopf gestellt wird. Vater und Mutter müssen ins Krankenhaus, oft für lange Zeit, sie verlieren Haare, magern ab und manchmal weinen sie auch oder sind verzweifelt. Oft sind sie nicht in der Lage, mit ihren Kindern gut und offen über ihre Krankheit zu sprechen.

Für Kinder ist das schwer zu ertragen. Manche ziehen sich zurück, andere werden aggressiv, kommen in der Schule nicht mehr mit. Und wieder andere schlucken alles herunter und versuchen besonders brav und kooperativ zu sein. „Die Kinder reagieren sehr unterschiedlich“, meint Göth.

Vor sieben Jahren gründete der Psychologe das Projekt „KiKe“, mit dem er die Lage dieser Kinder verbessern wollte. Wesentlichen Anteil daran hatten die TAGBLATT-Leser/innen, die mit ihren Spenden den Start des Projekts ermöglichten: „Das war der zentrale Beitrag für uns“, erinnert sich der Psychologe.

Seit 2010 hat sich viel getan, KiKe hat sich etabliert, ist bekannt und geachtet. Im ganzen Klinikum warb Göth dafür, bei der Behandlung von Krebspatienten die Kinder nicht zu vergessen. Er hängte Plakate auf, verteilte Flyer, hielt Seminare. Und er sorgte dafür, dass zwei Kunsttherapeutinnen eingestellt wurden, die im Atelier an der Herrenberger Straße die Kinder betreuen und sie ermutigen, ihre oft unterdrückten Gefühle zuzulassen, sie mit Farben oder Ton auszudrücken.

Warum ist Kunsttherapie so wichtig? Wäre es nicht besser, die Kinder würden sich ablenken, Musik hören, Fußball spielen oder ins Kino gehen? „Im Atelier kann man die Kinder langfristig begleiten und stärken“, meint Göth. Und die beiden Frauen machten das großartig, sagt er. So gut, dass die Nachfrage ständig wächst.

Was leider nicht wächst, ist das Spendenaufkommen. KiKe bekommt weder Geld von den Krankenkassen noch vom Klinikum. Das Projekt ist komplett auf Spenden angewiesen. „Wir haben momentan nur noch Rücklagen für ein halbes Jahr“, sagt Göth. „Wenn nichts mehr kommt, müssen wir zumachen.“

Ein Problem der KiKe-Verantwortlichen ist, dass ihre Schützlinge nicht selbst krank sind. „Ich kenne das aus Freiburg: Wenn man Geld für krebskranke Kinder benötigte, musste man nur kurz mal mit dem Finger aufzeigen, und es kamen Spenden.“ Das Anliegen von KiKe ist nicht so einfach zu vermitteln. „Was wir bräuchten“, meint Göth, „ist ein großer Spender, der uns dauerhaft unterstützt.“ So etwas wie die Walter AG bei den Tübinger Basketballern? „Das wäre der Traum“, meint der Psychologe.

Eltern dürfen auch mal weinen

KiKe lebt von vielen kleinen und ein paar größeren Spendern wie der Kreissparkasse oder Edeka. Immer wieder kommen aber auch Schulklassen, die gesammelt haben oder auf dem Weihnachtsmarkt etwas verkauft. „Die Schüler und Lehrer haben oft miterlebt, wie es Mitschülern ging, wenn die Eltern krank wurden.“ Etwa 15 Prozent der betroffenen Kinder werden in der Schule auffällig – für die Lehrer eine ziemliche Herausforderung. „Perspektivisch wollen wir deshalb verstärkt Multiplikatoren ansprechen wie Lehrer oder Erzieher und ihnen Hinweise geben, wie sie solchen Schülern helfen können.“

Einer der wichtigsten Ratschläge in diesen Fällen ist, die Kinder nicht anzulügen. „Kinder spüren genau, wenn etwas nicht stimmt“, sagt Göth. Es nütze nichts, das Wort „Krebs“ zu vermeiden oder so zu tun, als sei ganz schnell wieder alles gut. Allerdings müsse man auch nicht alles sagen und nicht jede mögliche Entwicklung einer Krankheit mit den Kindern erörtern.

Dürfen Eltern vor den Kindern Gefühle zeigen? „Sie dürfen auch mal weinen“, sagt Göth. Aber hier gelte das gleiche wie bei ihm als Therapeut: Die Kontrolle sollten sie nicht verlieren und auch nicht hilflos wirken. „Ein Kind orientiert sich daran, wie Papa und Mama zurecht kommen.“ Es fühle sich bedroht, wenn die Eltern überfordert wirken.

Hilfreich ist, dass Kinder oft sehr pragmatisch sind. Sie wollen möglichst genau wissen, warum die Haare ausfallen und wie ein Kernspintomograph funktioniert. Das kann man ihnen erklären. Viele wollen aber auch möglichst genau wissen, was passiert, wenn die Mama nicht mehr da ist. „Besonders Kinder von alleinerziehenden Müttern überlegen sich dann natürlich, ob sie ins Heim müssen.“ Auch wenn es unendlich schwer fällt: Wenn die Krankheit nicht mehr geheilt werden kann, müssen die Kinder rechtzeitig aufgeklärt werden. „Sie müssen wissen, was kommt danach, wo ist dein Platz.“

Auch die beste psychosoziale Begleitung kann allerdings den Tod von Mama oder Papa nicht zum Guten wenden. „Wenn Eltern sterben, ist dies das Schlimmste für ein Kind, so etwas ist niemals gut.“

Ist es nicht für ein Kind besser, wenn es die Eltern im Himmel weiß? In der Obhut eines gütigen Gottes? Göth ist ein gläubiger, aber nicht missionarisch veranlagter Mensch. Er findet, dass es zur Familie passen muss, wie man den Tod einordnet. „Man kann vielleicht ein Bild finden“, sagt er. „Dass der Vater ein Stern am Himmel wurde, oder auf einer Wolke schwebt.“ Man könne den Kindern auch sagen, dass man sie nach dem Tod immer hören werde.

Manchen Kindern helfe das. Göth erinnert sich an einen Sechsjährigen, der nach dem Tod des Vaters sagte: „Ich spüre meinen Vater immer um mich wie einen Mantel.“ Gut sei es auch, etwas zu haben, dass die Kinder mit der oder dem Toten verbindet. Ein Erinnerungsbuch zum Beispiel, das man in die Hand nehmen kann, in das man schöne Erlebnisse hineinschreibt, aber auch das Lieblingsessen oder die Schuhgröße. „So etwas kostet viele Tränen“, hat Göth festgestellt. „Aber auf Dauer gibt es den Kindern Halt.“

Diese Kinder sieht man nicht

So können Sie KiKe helfen

Spenden können Sie auf das Konto der Kreissparkasse Tübingen (IBAN: DE94 6415 0020 0000 1711 11 ). Bitte notieren Sie Ihre vollständige Adresse, wenn Sie eine Spendenquittung benötigen (bei Beträgen unter 200 Euro akzeptiert das Finanzamt einen Kontoauszug). Vermerken können Sie auch, wenn Sie nicht namentlich erwähnt werden oder nur ein bestimmtes Projekt unterstützen wollen. „KiKe“ ist in diesem Jahr Projekt 1, die „seltenen Krankheiten“ Projekt 2,

1961 geboren in Ludwigsburg

1981 Abitur in Leonberg

1983 - 91 Studium der Biologie in

Tübingen, Helsinki und Freiburg

1990 - 96 Diplombiologe und

Gutachter bei der Landesanstalt für

Umweltschutz

1991 - 97 Psychologiestudium,

Freiburg

1997- 2000 Mitarbeiter am Institut für zukunftsorientierte Bildung

2000 - 02 Psychologe an der

Universitäts-Kinderklinik, Freiburg

seit 2002 Psychologe am Südwestdeutschen Tumorzentrum

2007 Gründung von KiKe

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Erstellt:
16.12.2017, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 5min 07sec
zuletzt aktualisiert: 16.12.2017, 01:00 Uhr

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