Gar eine Hochburg der Hochburgen?

Die verbreitete Behauptung zur Position der Universitätsstadt im Nationalsozialismus ist fragwürdig

Ein Geschichtspfad mit 16 Stelen schlängelt sich durch die Tübinger Innenstadt. Er thematisiert einzig und allein den Nationalsozialismus. Keine Frage, hier muss eine Hochburg gewesen sein. Oder?

26.08.2016

Von Hans-Joachim Lang

Die verbreitete Behauptung zur Position der Universitätsstadt im Nationalsozialismus ist fragwürdig

Tübingen. Ganz zweifellos scheint Tübingen mehr noch zu sein als nur eine Hochburg des Nationalsozialismus, nämlich: eine Hochburg der Hochburgen des Nationalsozialismus. Denn gibt man bei „google“ in die Suchzeile „Hochburg des Nationalsozialismus“ ein, erscheint Tübingen gleich an erster und auch noch an zweiter Stelle. Erstens mit dem Hinweis auf der Website der Geschichtswerkstatt, dass die Universität zur Hochburgwerdung einen zentralen Anteil hatte und zweitens, ebenfalls dort, mit dem Zusatz, dass Tübingen schon vor 1933 eine Hochburg des Nationalsozialismus gewesen sei.

Epizentren der Hochburg-These sind außer der Tübinger Geschichtswerkstatt noch das unter den Hauptakteuren teils personenidentische „Lern- und Dokumentationszentrum zum Nationalsozialismus“. Auch auf dessen Website wird man fündig: „Tübingen war eine Hochburg des Nationalsozialismus und durch Universität, Mittelstand, Gerichte und Verwaltung an der Vorbereitung, Durchführung und später der mangelhaften Aufarbeitung des Nationalsozialismus beteiligt.“

Aus der Tradition des Grabe-wo-du-stehst der Geschichtswerkstätten und unter dem Horizont des eigenen Tellerrands erscheint mancher Hügel gleich als Hochburg. Aber im Vergleich mit anderen Universitäten oder Mittelstädten waren weder die Eberhard-Karls-Universität Universität noch die Stadt Tübingen herausragend auffällig. Was nicht bedeutet, dass Stadt und Universität überhaupt nicht auffällig agierten, aber es geht hier um tatsächliche oder vermeintliche Hochburgen. Einige Beispiele müssen an dieser Stelle genügen.

Die in Wählerstimmen messbaren Sympathien für die NSDAP war in Tübingen hoch, andernorts jedoch höher. Ihre größten Erfolge in Württemberg in regulären Wahlen hatten die Nationalsozialisten bei den Reichstagswahlen im Sommer 1932 in den Oberämtern Gerabronn (64,1 Prozent), Nagold (51,8 Prozent) und Crailsheim (51,3 Prozent), Calw, Gaildorf und Öhringen (je 50,4 Prozent). Im Oberamt Tübingen erzielte die NSDAP 32,8 Prozent, im benachbarten Oberamt Rottenburg gar nur 21,9 Prozent. Auch im Vergleich der württembergischen Städte liegen andere oben.

In keinem anderen Bereich der deutschen Gesellschaft konnten die Nationalsozialisten derart rasche und frühe Triumphe feiern wie in der Studentenschaft. In der Weimarer Republik prägten national-konservative Gruppierungen die Studentenpolitik. Etwa 70 bis 80 Prozent der Tübinger Studenten waren Mitglied in einer der 48 Studentenverbindungen.

Bei Wahlbeteiligungen zwischen 60 und 80 Prozent hatte sich der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund (NSDStB) in wenigen Jahren zur stärksten Kraft emporgearbeitet. Und zwar an nahezu allen Hochschulen. Bei den AStA-Wahlen 1932 erreichte der NSDStB in Tübingen 43,3 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen. Gleichwohl: An 13 von 18 Universitäten lag sein Stimmenanteil teils deutlich darüber.

Fast alle studentischen Verbindungen begrüßten 1933 den Machtwechsel, verknüpften ihre politischen Hoffnungen mit dem Aufstieg von Adolf Hitler, aus ihren Reihen kamen zahlreiche fanatische, später auch radikale Nationalsozialisten. An dieser Stelle erfolgt mit Recht der Hinweis darauf, dass an der Tübinger Universität auch Studenten sozialisiert wurden, die zu Führern von grausam wütenden Einsatzgruppen und Einsatzkommandos der SS aufstiegen, immerhin acht von etwas mehr als 80. Doch muss man korrekterweise hinzufügen, dass von diesen acht nur zwei ausschließlich in Tübingen immatrikuliert waren.

Politisch dachten die meisten der Professoren vor 1933 national und konservativ, zur Weimarer Demokratie verhielten sich viele kritisch-distanziert, nicht selten auch ablehnend. Mit der Stadtgesellschaft fraternisierten sie dabei allerdings nicht. Das Etikett „Universitätsstadt“, das 1938 offiziell angeheftet wurde, überklebte die tatsächlichen Bruchstellen.

Professoren hatten die Tübinger Nationalsozialisten vor 1933 keine in ihren Reihen. Zwei hatten im November 1932 einen Aufruf unterschrieben, die Nationalsozialisten zu wählen. Das waren 1,2 Prozent der Tübinger Professorenschaft. In einer Anzeige in überregionalen Tageszeitungen bekundeten Anfang März 1933, unmittelbar vor den Reichstagswahlen, 300 Hochschullehrer ihre Bereitschaft, „an dem großen Aufbauwerk der Reichsregierung mit all unseren Kräften mitzuarbeiten“. Auch 14 Tübinger Hochschullehrer hatten unterschrieben, darunter elf Professoren. Es gab Universitäten mit mehr Unterzeichnern wie Kiel (26) und Bonn, Breslau, Jena und Halle (je 15). Im Mai 1933 wurden in Tübingen die ersten sieben Professoren in die NSDAP aufgenommen.

Im Mittelpunkt staatlicher Hochschulförderung standen insbesondere solche Wissenschaftsdisziplinen, die der NS-Ideologie dienten. Rassenhygiene und Rassenkunde, egal ob medizinisch oder anthropologisch orientiert, bauten die Nationalsozialisten reichsweit zu einer neuen Leitwissenschaft aus, hier mehr und dort weniger auf eine selbstständige Rassenbiologie ausgerichtet.

Zehn Jahre nachdem in Tübingen eine Gesellschaft für Rassenkunde eingerichtet worden war, gründete die Universität Tübingen 1934 als erste in Deutschland einen Lehrstuhl für Rassenkunde und übertrug ihn an Wilhelm Gieseler. Falsch wäre es freilich, daraus eine rassenbiologische Vorreiterrolle Tübingens abzuleiten, denn die geforderten Fachinhalte institutionalisierten sich unter unterschiedlichen Bezeichnungen und mit verschiedenen inhaltlichen Ausprägungen – je nach den örtlichen Vorstellungen und Protagonisten – auch an den anderen Universitäten. Einen außerordentlichen Lehrstuhl für Rassenhygiene hatte die Universität München bereits 1923 eingerichtet. Institute für Rassenhygiene wurden in München und Berlin gleich nach der Machtübergabe an die Nazis 1933 gegründet, ebenso in Greifswald ein Institut für menschliche Erblehre und Eugenik.

An die Biologie als profilgebende Leitwissenschaft rückten die zentralen Hochschulplaner zwei weitere, ideologisch getrimmte interdisziplinäre Forschungsverbünde, zum einen die Auslandkunde und zum anderen die „Judenwissenschaft“.

Auf letzterem Gebiet profilierten sich in Tübingen evangelische Theologen wie Gerhard Kittel und Karl Georg Kuhn sowie der Philosoph Max Wundt mit großem öffentlichen Erfolg, der nach einer publikumswirksamen Vortragsreihe nicht zufällig von der „Tübinger Chronik“ mit dem Hinweis kommentiert wurde, dass es sich bei dem Antisemitismus des Dritten Reichs um „eine Sache wissenschaftlicher Erkenntnis“ handle. Durch die Forschungen von Kuhn, Kittel und Wundt sei die Universität Tübingen „führend geworden in der wissenschaftlichen Erforschung der weltanschaulich und rassenpolitisch besonders bedeutungsvollen Judenfrage“, konstatierte im April 1940 Dekan Carl August Weber von der hiesigen Philosophischen Fakultät.

Aber für wie zutreffend kann man solches Ranking halten, das vor allem darauf abzielte, eine neue Professur genehmigt zu bekommen? Seit der Dissertation von Uwe Dietrich Adam aus dem Jahr 1977 gibt es keine neuere Arbeit, in der die Tübinger Universität einer Analyse aus einem Guss unterzogen wurde, in die auch neueste Quellen einbezogen sind. Eine vergleichende Bewertung aller 23 Universitäten gibt es ohnehin (noch) nicht.

Forschung und Lehre waren verstärkt ideologisiert worden, waren aber nicht überall völlig davon durchdrungen. Das kann der genauere Blick in die einzelnen Fächer offenbaren. Auch bei verkleinerten Handlungsräumen gab es noch Nischen, in denen sich Forscher den Zumutungen entziehen konnten, so sie denn welche verspürten. Dazu bedarf es eines historisch geschulten Wissens um die Inhalte der jeweiligen Fächer, um auch Zwischentöne erkennen und bewerten zu können.

Die Physik beispielsweise gehörte zu den Feldern in der Universität, die sich offenbar nicht völlig auf Gleichstrom schalten ließen. Uwe Dietrich Adam hält in seiner Untersuchung über die Universität Tübingen im Dritten Reich fest, dass der hiesige Lehrstuhlvertreter Ernst Back, „unbekümmert die Positionen Einsteins“ vertreten habe.

Gegenüber den anderen Universitäten im Deutschen Reich ragte die Eberhard-Karls-Universität weder von den Professoren noch von den Studenten her als ideologische Kaderschmiede besonders heraus. Hier wurden, wie anderswo auch, Prozesse in Gang gesetzt, die Wissenschaft für die Ziele des Staats zu verpflichten und letztlich einen Profilwandel der Universitäten herbeizuführen. Durch Gleichschaltung, politische Repression, Durchsetzung des „Führerprinzips“ in der Hochschulverwaltung, Berufungspolitik und politische Anpassung von Forschung und Lehre ist dies weitgehend gelungen. Die Auswirkungen waren ganz konkret und betrafen zum einen unmittelbar die Hochschulangehörigen, die nicht in die politische Welt der Nationalsozialisten passten. Zum anderen schmiedeten Wissenschaftler ihr Werk-Zeug zu Waffen, teils auch zu Massenvernichtungswaffen, deren Opfer Millionen von Menschen wurden.

Mediziner sterilisierten in Kliniken Frauen und Männer, weil Rassehygieniker unterbinden wollten, dass vermeintlich Erbkranke Kinder bekommen konnten. Die formale Entscheidungen trafen deutschlandweit rund 220 Erbgesundheitsgerichte, Mitwirkende waren Amtsärzte in den Gesundheitsämtern. Die Zahl der Zwangssterilisationen – rund 400 000 Personen, mithin mehr als ein Prozent im fortpflanzungsfähigen Alter – sagt noch nichts aus über dieses komplexe Zusammenwirken, die Zahl der Mitwirkenden und die Intensität ihres Vorgehens. In Tübingen ist das noch gar nicht untersucht, geschweige denn, dass Vergleiche zu andernorts gezogen worden wären. Immerhin ein sehr gravierendes Gebiet.

Gesundheitsämter wie überhaupt die staatlichen und kommunalen Verwaltungen mussten die zentralen Vorgaben vollstrecken. Wer in Tübingen eine Hochburg des Nationalsozialismus sieht, muss auch beschreiben können, worin sich die hiesigen Protagonisten bemerkenswert hervortaten. Wie stark war der Antisemitismus ausgeprägt, kam es zu Gewalttaten gegen Juden wie in Heidenheim und gegen Beschützer von Juden wie in Oberleningen? Waren Gegner des Nationalsozialismus in Tübingen stärker gefährdet als anderswo?

Alle die aufgezählten Aspekte und noch viele mehr waren Bestandteile des Terrorsystems der Nationalsozialisten. Nichts daran gibt es zu relativieren. Aber wer das Land in Hochburgen einteilen möchte, muss erstmal präzise messen und dann vergleichend urteilen – oder er wird unglaubwürdig und sein Statement nichtssagend. War Tübingen eine Hochburg des Nationalsozialismus? Wie gezeigt: in vieler Hinsicht nein. Man könnte aber auch fragen: War nicht ganz Deutschland eine Hochburg des Nationalsozialismus? Als Antwort läge nahe: Für Deutschland war er sogar ein globales Alleinstellungsmerkmal.

Folge 2: Tübingen war eine Hochburg des Nationalsozialismus

Oder stimmt das alles gar nicht? In einer neuen Serie checkt das TAGBLATT lokal verortete Behauptungen, die oft ungeprüft kursieren. In der ersten Folge untersuchten wir stichprobenhaft, ob das Leben in Tübingen teurer ist als anderswo. Weitere scheinbar unverrückbare Gewissheiten werden bereits auf ihre Alltagstauglichkeit überprüft. Zu den nächsten Themen, denen wir auf den Grund gehen werden, gehört: Hat Tübingen wirklich die größte Psychotherapeutendichte in Deutschland? Oder auch die – scheinbare? – Gewissheit – dass Palmer-City eine autofeindliche Stadt ist.

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Erstellt:
26.08.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 5min 48sec
zuletzt aktualisiert: 26.08.2016, 01:00 Uhr

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