Vor der Premiere

Jeder trägt Verantwortung

Im (jungen) LTT beginnt die Spielzeit morgen mit einem wieder sehr aktuellen Theaterklassiker, Max Frischs „Andorra“.

14.09.2018

Von ST

Fanny Brunner Bild: LTT

Fanny Brunner Bild: LTT

Max Frischs „Andorra“ ist die erste Premiere des Jungen LTT unter der neuen Leitung Oda Zuschneids (siehe oben). Am morgigen Samstag kommt die dramatische Parabel über Rassismus und Ausgrenzung – für junge Menschen ab 14 Jahren aufwärts – auf die Bühne und eröffnet damit die neue Saison am LTT. Dramaturg Michel op den Platz (auch ganz neu im Jungen-LTT-Team) sprach mit Regisseurin Fanny Brunner, Gründerin der Freien Gruppe „dreizehnterjanuar“, Entwicklerin von Stücken, Musikvideos, Site Specific Theatre und Lecture Performances. Am Zimmertheater hat sie in den vergangen Jahren bereits dreimal inszeniert (zuletzt „Eskalation Ordinär“). „Andorra“ ist ihre erste Inszenierung am LTT.

„Andorra“ von Max Frisch wurde 1961 uraufgeführt. Wie haben Sie sich einen aktuellen Zugang zu dem Stück erarbeitet?

Fanny Brunner: Das verläuft immer ähnlich. Ich arbeite mich in der Vorbereitung auf die Inszenierung schichtweise vor: von der Oberfläche der Sprache, den Bühnenanweisungen, den Figuren, der Geschichte von A nach B hin zum Kern der Botschaft, die eigentlich transportiert werden soll. Und diese Botschaft übersetze ich dann in eine heutige Notwendigkeit und Ästhetik. Das heißt, ich tauche ganz tief ein in die Materie und lasse zunächst alle vermeintlichen Auflagen hinter mir. Ich nehme mir heraus, alles auf seine Aktualität hin zu überprüfen. Dann baue ich die Einzelteile wieder neu zusammen. Ich versuche, so frei wie nötig und möglich, der Intention des Autors auf eine zeitgemäße Art gerecht zu werden.

Wir haben zum Beispiel auf eine zeitliche und räumliche Verortung der Geschehnisse komplett verzichtet. Die Bühnenrealität steht über der Stückrealität. Wir haben den Text stark gekürzt, allerdings ohne dabei irgendeinem der verhandelten Konflikte aus dem Weg zu gehen, sondern im Gegenteil sie stärker zu verdichten. Dafür haben wir nun auch Zeit für fantastische Songs und Improvisationen, die auf einer ganz anderen Ebene wirken sollen. An der Struktur des Stücks haben wir jedenfalls nicht gerüttelt.

Das Stück handelt von Ausgrenzung im Allgemeinen und von Antisemitismus im Speziellen, es ist politische Parabel und Fallbeispiel in einem. Wie sind Sie damit umgegangen?

Das zog einen langen Findungsprozess nach sich. Mir lag von Anfang an am Herzen, das Parabelhafte am Einzelschicksal Andris zu unterstreichen. Antisemitismus ist ja in unseren Köpfen stark besetzt und mit klaren Bildern behaftet. Es erscheint mir darum nicht einfach, mit seiner Hilfe etwas über Ausgrenzung im Allgemeinen zu erzählen. Aber, so wie ich Frisch verstanden habe, wollte er das tun. Und dem wollen wir Rechnung tragen. Ich hoffe, die Übung gelingt! Als Theaterschaffende läuft man leicht Gefahr, durch die Wiederholung von gängigen Klischees Ressentiments gerade zu bedienen. Es ist wirklich eine Gratwanderung, etwas von Judenfeindlichkeit zu erzählen, ohne gewisse Stereotype zu reproduzieren. Das sollte man sich auch als Zuschauerin und Zuschauer mal bewusst machen. Was ich hingegen liebe, sind Übertreibung und Zuspitzung. Die Karikatur legt alles bloß. Sie ist lehrreich und unterhaltsam zugleich.

Wie stellen Sie das konkret auf der Bühne dar?

Wir haben die Schauspielerinnen und Schauspieler der Aufgabe enthoben, ein bestimmtes Rollenverhalten darstellen zu müssen. Mithilfe eines bühnenbildnerischen und inszenatorischen Tricks geben wir ihnen die Möglichkeit, sich als Performerinnen und Performer zu den schablonenhaft gestalteten Figuren verhalten und auf sie reagieren zu können. Mehr verrate ich nicht.

Andri, die Hauptfigur, wird zerrieben zwischen seinem Wunsch nach eigener Identität und dem Bildnis, das sich die Gesellschaft von ihm macht. Ist sein Schicksal unausweichlich?

Diesen Kräften und Vorgängen sind wir alle ausgesetzt. Graduell stark unterschieden natürlich. Insofern glaube ich, ja, sein Schicksal ist unausweichlich. Ab einem bestimmten Zeitpunkt zieht sich da eine Schlinge zu, auf die der/die Einzelne keinen Einfluss mehr hat. Und trotzdem beeinflusst jeder Mensch mit dem, was er tut oder unterlässt, genau diesen Entwicklungsprozess. Jeder trägt Verantwortung auch für sein Umfeld.

Premiere am morgigen Samstag um 20 Uhr, LTT-Werkstatt. Weitere Vorstellungen am 21. September und 9. / 10. / 12. / 19. / 25. und 27. Oktober.

Worum geht es in „Andorra“?

Ein Lehrer zieht im fiktiven Kleinstaat Andorra seinen (vermeintlichen) jüdischen Pflegesohn Andri auf, den er aus dem Nachbarland der antisemitischen „Schwarzen“ gerettet hat. Andri wird von der andorranischen Bevölkerung zwar geduldet, stößt aber im Laufe seines Heranwachsens immer häufiger auf Anfeindungen und Vorurteile. Allmählich wird der junge Mann zum gesellschaftlichen Außenseiter degradiert. Selbst als sich herausstellt, dass Andri gar nicht jüdisch, sondern der uneheliche Sohn seines Ziehvaters ist, hält Andri an der ihm zugewiesenen Identität fest. Ohne den Rückhalt der Andorraner jedoch kommt es zur Katastrophe, als Andorra eines Tages von den „Schwarzen“ überfallen wird.

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Erstellt:
14.09.2018, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 23sec
zuletzt aktualisiert: 14.09.2018, 01:00 Uhr

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