Schausteller
„Die können einfach nicht mehr“
Achterbahnen weihen, Taufen in der Manege: Seinen Job als Zirkuspfarrer hat Johannes Bräuchle immer gern gemacht. Seit Corona ist alles anders: Seine Schäfchen stehen vor dem Nichts.
Gottesdienste zwischen Boxautos gehören für Bräuchle zum Alltag. „Taufen sind immer auf dem Autoscooter oder in der Zirkusmanege“, erklärt er. Das Weihwasser und alles andere, das er für die Zeremonie braucht, bringt der Seelsorger mit. Er trägt dann einen Talar und seine Zirkuspfarrer-Stola. Auf dem liturgischen Stoffband sind ein Wohnwagen, Riesenrad, Marktstand, Zirkuszelt und Puppenmasken gestickt – die Symbole derer, für die Bräuchle zuständig ist: Wanderarbeiter, Schausteller, Marktbeschicker, Zirkusleute und Puppenspieler. Zusammen etwa 5000 Menschen.
„Wenn ich im Zirkus was mache, dann will ich immer Remmidemmi“, sagt der Zirkuspfarrer. Das wissen seine Leute und lassen sich bei den Zeremonien vom Kamel in der Manege bis zum artistischen Kunststück etwas einfallen. Neben Taufen hält Bräuchle auch Trauungen, Konfirmationen und Beerdigungen ab.
Außerdem weiht er neue Achterbahnen und Zirkuszelte ein. Letzte Woche bat ihn eine Familie, den neuen Ausschank zu weihen. Dabei verbindet er die Zeremonie immer mit einem Gebet für die Menschen, etwa, dass niemand zu Schaden kommt. Bloße Gegenstände würde er nicht segnen.
„Gebt uns bitte eine Adresse, wo wir bleiben können“, das rät der Zirkuspfarrer seinen Schützlingen, den Polizisten zu sagen. Zweimal habe er das Bleiberecht schon erzwungen. Das gehe aber nur, wenn die Betroffenen sich obdachlos meldeten. „Im Moment spielt sich in unserem Land eine entsetzliche Tragödie ab, und ich habe kein Rezept dagegen.“
Weil viele Zirkusleute keinen festen Wohnsitz haben, waren sie zunächst auch nicht für Hartz IV berechtigt. Nach vielen Verhandlungen mit den Jobcentern seien in seinem Bezirk mittlerweile alle Zirkusleute, die das wollen, in der Grundsicherung. Die zweite und dritte Überbrückungshilfe hätten sie aber nicht bekommen, weil man für den Antrag einen Steuerberater brauche. Um die Tiere versorgen zu können, gingen sie betteln. „Wir produzieren an einer Berufsgruppe eine Not, die völlig ausweglos ist. Die kriegen nichts und das seit 14 Monaten. Die können einfach nicht mehr.“
Manche Gemeinden, wie die evangelische Kirchengemeinde in Stuttgart-Riedenberg, wollen den Zirkusleuten helfen. Jüngst hatte die Gemeinde die Idee, Gottesdienste mit artistischen Darbietungen anzubieten. Das sei so gefragt gewesen, dass jeder Gottesdienst doppelt abgehalten wurde, erzählt Bräuchle. Die evangelische Gemeinde in Kirchheim am Neckar wollte die Idee aufgreifen. Das dortige Ordnungsamt habe das aber verboten. Von der Stellungnahme des Oberkirchenrats ist Bräuchle enttäuscht. Mittlerweile hat er sich an den Landesbischof gewandt.
Widerstände und Niederlagen bis zur kurzzeitigen Suspendierung hat der 73-Jährige schon einige erlebt (siehe unten). Normalerweise hätten die Widrigkeiten ihn beflügelt. Die aktuelle Situation seiner Leute kann er hingegen nur schwer aushalten. Nicht nur sich selbst stellt er die Frage: „Was macht das mit unserem Land, unserer Gesellschaft und unserer Kultur?“
Jugendpfarrer, Stadtrat und S-21-Befürworter
Johannes Bräuchle wurde 1947 in Wurmberg bei Pforzheim geboren. Nach dem Theologiestudium in Tübingen war er unter anderem Jugendpfarrer in Baden-Württemberg und schließlich Projektreferent im Missionarischen Dienst. Als Stuttgarter Stadtrat (CDU) war er auch politisch aktiv.
Beim Streit um Stuttgart 21 engagierte sich Bräuchle für den Bahnhofsbau. Seine scharfen Worte gegen S-21-Gegner mündeten in einer Anklage und Suspendierung – beides wurde später zurückgenommen. Als er 2013 in den Ruhestand ging, kam die Anfrage, ob er Zirkuspfarrer werden wolle. Seither reist der vierfache Vater ehrenamtlich durchs Land.