Matthias Reichert mistet sein Regal aus

Die Warteschlange der ungelesenen Bücher

Der Mensch wächst mit seinen Aufgaben. Deshalb habe ich mir für diesen Herbst vorgenommen, meine Büchersammlung auszumisten. Ich habe so viele Schinken gekauft, die schon nach hundert Seiten nicht gehalten haben, was der Klappentext versprach: Ein Buchpreisträger, der vor lauter Lyrismen nicht einmal Grundgerüste der Handlung lieferte. Ein Schlüsselroman, der keinen Satz über das angebliche Sujet hergab – von wegen Recherche!

03.11.2017

Von Matthias Reichert

Dazu die Restposten. Auf Flohmärkten in Reutlingen und Umgebung habe ich bestimmt hundert gebrauchte Bücher erstanden, von denen ich bisher genau drei gelesen habe. Die übrigen stehen im Schrank und warten auf bessere Tage, an denen ich endlich Zeit habe – da können sie lange warten.

Es gäbe also genug Bücher zum Wegwerfen. Leider tue ich mich als Schwabe und Bücherwurm schwer damit. Auch den Gang zum Büchertauschregal am Albtorplatz trete ich nur schweren Herzens an. Gekauft ist gekauft, selbst wenn es nur zwei Euro pro Gebrauchtband gewesen sind. Immerhin habe ich meine vier John-Irving-Bände zum Tauschregal gebracht. Die hatte ich schon in den 1990-ern verschlungen und wäre auf Jahrzehnte nicht zur Zweit-Lektüre gekommen.

Ich gebe zu, dass ich einen Büchertick habe. Alles, was mir lesenswert erscheint, wird gesammelt und gehortet. Nur zum Lesen komme ich kaum. So stehen bei mir Proust und Pessoa, Doderer und Diderot einträchtig in der Warteschlange der ungelesenen Bücher. Allein aus dieser Leseliste könnte man einen veritablen Roman stricken. Gibt es aber schon: Der große Argentinier Jorge Louis Borges hat das die Bibliothek von Babel genannt und damit mein Bücherregal bereits 1941 korrekt vorausgesagt.

Die unendliche Bibliothek schmälert freilich mein Lesevergnügen. Sobald ich einmal ein Buch ausgelesen habe, konkurrieren zehn weitere darum, als nächstes aufgeklappt zu werden. Wenn ich nachts nicht schlafen kann, zähle ich die ungelesenen Bände und finde erst recht keine Ruhe mehr.

Deshalb wird die Büchersammlung jetzt radikal abgespeckt, bis ich wieder Luft kriege zwischen den Stapeln. Wenn nur das Loslassen nicht so schwer fiele. Ich bin insgeheim stolz auf meine Büchersammlung und träume vom fernen großen Tag, an dem ich alle Bände ausgelesen habe. Wobei – bis ich drei durch habe, ist der Inhalt des ersten schon wieder vergessen.

Keine Ausrede also, Mittwoch habe ich mit dem Ausmisten angefangen. Und als erstes die Leseliste aus dem Studium zum Altpapier gegeben, die ich seit bald 20 Jahren als ständige Mahnung ans schlechte Gewissen mit mir herumschleppe. Den lyrischen Buchpreisträger verschenke ich, den Schlüsselroman ohne Bezug zur Realität tausche ich um. Und die hundert Second-Hand-Bücher stelle ich zähneknirschend vor die Tür. Zu verschenken – irgendwer wird sich erbarmen und sie für mich lesen.

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Erstellt:
03.11.2017, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 11sec
zuletzt aktualisiert: 03.11.2017, 01:00 Uhr

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