Tübingen

Lauren Newton: Die Stimmweltbürgerin

Lauren Newton hätte an diesem Dienstag den Landesjazzpreis bekommen – wenn Corona nicht wäre. Die Amerikanerin, die in Tübingen lebt, hat für ihr Genre Außergewöhnliches geleistet.

17.11.2020

Von Wilhelm Triebold

Die in den USA geborene Lauren Newton ist eine der wichtigsten Jazzmusikerinnen, nicht nur in Baden-Württemberg. Foto: Koho Mori-Newton

Die in den USA geborene Lauren Newton ist eine der wichtigsten Jazzmusikerinnen, nicht nur in Baden-Württemberg. Foto: Koho Mori-Newton

Tübingen. Sie ist eine poetische Grenzgängerin durch die Skalen und Oktaven der Gesangskunst, improvisierend, experimentierend, sich ihres Stimmband-Instruments auf geradezu artistische Art und Weise bewusst: die Amerikanerin Lauren Newton, seit bald vier Jahrzehnten in Tübingen beheimatet und von hier aus als „Weltbürgerin“, wie sie sich selber nennt, rund um den Erdball unterwegs.

Sie hat den experimentellen Scat-Gesang aus den engen Grenzen des Jazz-Genres herausgeholt, zu einer Zeit, als es Crossover und andere Überbrückungsformen der Musik noch nicht gab. Tat sich mit Bobby McFerrin wie mit Ernst Jandl zusammen, mit Hans-Joachim Hespos wie mit Anthony Braxton, nahm sich Mahlers „Kindertotenlieder“ vor und verkörperte am Wiener Burgtheater, in Aristophanes' „Die Vögel“, die Nachtigall. Und war vor allem, in dessen bester Zeit, wichtigste Stimme des Vienna Art Orchestra.

Lauren Newton, die Vielseitige, Vielstimmige: An diesem Dienstag hätte ihr im Stuttgarter Theaterhaus der Landesjazzpreis „für ihr Lebenswerk“ verliehen werden sollen, eine Ehre, die bislang nur den Landesjazzgrößen Eberhard Weber, Wolfgang Dauner, Herbert Joos und Bernd Konrad zuteil wurde. Newton erweitert als erste weibliche Preisträgerin den Horizont dieser mit 10?000 Euro dotierten Auszeichnung. Der Festakt fällt zwar dem Corona-Kulturshutdown zum Opfer, soll aber im kommenden Sommer nachgeholt werden.

Attestierte man früher den Primadonnen bewundernd eine „geläufige Gurgel“, könnte man angesichts der Vokalisen und Koloraturen Newtons anerkennend von der „wohltemperierten Kehle“ sprechen. Oder wie es Rainer Tempel, selber mal Landesjazzpreisträger und Sprecher der Jury, formulierte: Sie sei „eine Tonkünstlerin, die sich für das Detail der Klänge interessiert, den Klang hinter dem Klang, deren Werkzeug mehr die Ton-Lupe ist denn das große Band-Besteck.“

Laut Tempel ist Newtons Einfluss auf den Gesang in Jazz und improvisierter Musik nicht hoch genug einzuschätzen: „Mit beeindruckender Konsequenz hat sie der Stimme im Jazz eine neue künstlerische Perspektive eröffnet.“ Die Stimme habe ihren Ursprung im Klang, sagt Newton selbst: „Mein Stil bedient sich der zahllosen Facetten der menschlichen Stimme, vom Gesang zum Geräusch und mitunter von Worten, wegen ihres Klangs.“

Seit 25 Jahren ist Lauren Newton mit dem Bildenden Künstler Koho Mori-Newton verheiratet, und spätestens seitdem ist Tübingen heimatlicher Stützpunkt, an den man immer wieder gern zurückkehrt. „Dadurch, dass wir viel reisen, wird es uns nicht langweilig“, hatte die Klangkünstlerin bei einer früherer Interview-Gelegenheit geäußert. Deshalb nun die Nachfrage: Wie stellt sich für sie die Situation derzeit dar, wenn alle Konzerttermine abgesagt werden müssen?

Ja, alles ist gestrichen, bestätigt Lauren Newton. Sie könnte womöglich noch im Dezember zwei Stimmworkshops geben, in Berlin und Dresden. Singen steht allerdings, wie auch der Gebrauch von Blasinstrumenten, unter misstrauischer Beobachtung wegen Aeorosol-Alarms. Das stimmt auch die Sängerin traurig, ein Patentrezept kennt auch sie nicht.

So nutzte Lauren Newton die Zwangspause durch die Pandemie, um ein anderes Herzensanliegen umzusetzen: Sie hat ein Buch geschrieben. Es ist nahezu fertig, ist halb autobiografisch und halb lehrmethodisch. „Vocal Adventures“ wird es heißen. Wie manche Kolleginnen und Kollegen mangels physischer Auftrittsmöglichkeiten ins digitale Netz hinüberzuwechseln, ist allerdings gar nichts für sie. „Das ist doch nicht das Gleiche wie ein Livekonzert. Nichts, was Energien direkt überträgt.“ Ihr Gesang will „hautnah erlebbar“ bleiben.