Baubiologie: Ein Modell für die Öko-Wende

Die Schafbrühl-Siedlung auf Waldhäuser Ost steht nun unter Denkmalschutz

Die erst 33 Jahre alte Siedlung Schafbrühl auf Waldhäuser Ost, ein Reformprojekt des Mietwohnungsbaus, wurde unter Denkmalschutz gestellt.

11.08.2018

Von Ulrike Pfeil

„Ein Architekt erlebt es selten, dass eins seiner Werke zum Denkmal erhoben wird“, sagt Joachim Eble, 74, hier mit seiner Frau, der Farbgestalterin Barbara Eble-Graebener, mitten in der üppigen Umgebung des Schafbrühl-Quartiers. Bild: Metz

„Ein Architekt erlebt es selten, dass eins seiner Werke zum Denkmal erhoben wird“, sagt Joachim Eble, 74, hier mit seiner Frau, der Farbgestalterin Barbara Eble-Graebener, mitten in der üppigen Umgebung des Schafbrühl-Quartiers. Bild: Metz

Manche Kulturdenkmale sind erstaunlich jung. Die Schafbrühl-Siedlung am Berliner Ring wurde erst 1985 bezogen. Als Pionierprojekt biologisch-ökologischen Bauens verkörperte sie die Abkehr vom Modell Trabantenstadt, Hochhaus, Flachdach. Eine Anlage, die sich mit ihrer Architektur, den tief heruntergezogenen Satteldächern, Gauben, Erkern und Holzbalkonen trotz hoher Dichte am Dörflichen orientiert (dem benachbarten Weiler Waldhausen) und soziale Beziehungen fördert. Dazu eine Bauweise mit natürlichen Materialien wie Holz, Ziegel und Korklinoleum, familienfreundliche Wohnungsgrundrisse, Wintergärten zur passiven Nutzung von Sonnenenergie. Alles eingebettet in einen von Landschaftsarchitekten gestalteten Grünraum mit Höfen, Wasser, Gemeinschaftsgärten und heimischen Obstbäumen.

Ein solches Experiment, sagt der Architekt Joachim Eble, „wäre heute undenkbar.“ Denn der Schafbrühl ist eine Mieter-Siedlung; die ersten zehn Jahre unterlagen die Wohnungen sogar der Sozialbindung. Eble, damals in Büropartnerschaft mit Burkhard Sambeth, gehörte zu den Architekten, die standardisierten Beton-Bauten eine „Architektur der Sinne“ entgegensetzen wollten. So nannte es sein Stuttgarter Architektur-Lehrer Rolf Gutbrod, der die Liederhalle baute und das Studentische Clubhaus in Tübingen.

Wie viele Architekten seiner Generation holte Eble sich neue Öko-Ideen unter anderem in den USA. In Renningen hatte er ein Firmen-Verwaltungsgebäude nach baubiologischen Kriterien gebaut. Davon hörte der damalige Tübinger Baubürgermeister Klaus Blanke, als Investor fand sich die Karlsruher Lebensversicherung. Deshalb entstanden auf dem letzten freien WHO-Grundstück keine Eishalle und kein Seniorenstift, sondern dringend benötigte Mietwohnungen für Familien.

Es kam vieles zusammen damals: die Anfänge der Öko-Bewegung, Erkenntnisse über gesundheitsschädliche Baustoffe (Holzschutzmittel zum Beispiel), eine spezielle Tübinger Experimentierfreude mit „grüner“ Architektur – und eine schwache Konjunktur, mit relativ niedrigen Baupreisen.

Da der Auftrag für eine Siedlung mit 111 Wohnungen und drei Gewerbeeinheiten das junge Büro zu überfordern drohte, holten Eble und Sambeth die erfahrenen Kollegen Wolfgang Oed und Gottfried Haefele mit ins Boot. Für die Grünanlage wurden die Landschaftsarchitekten Christoph Harms und der damals noch unbekannte Herbert Dreiseitl engagiert – inzwischen ein international renommierter Stadtbegrüner.

Auch die Farbgestaltung sollte das Raumgefühl angenehm weiten: Ebles Ehefrau, die Künstlerin Barbara Eble-Graebener, entwickelte ein Konzept mit changierenden Lasuren: blau schimmernd an der Außenkante, rötlich bis gelb in den Innen-Lagen, je nach Sonneneinfall. „Die Farbe“, sagt sie, „trägt dazu bei, dass man die Dichte nicht spürt.“

Gleich nach ihrem Bezug 1985 erregte die Schafbrühl-Siedlung größtes Interesse. Fachzeitschriften berichteten, Architekten besichtigten. Für das Büro Eble, das seither dort seinen Standort hat, war das Projekt „extrem prägend“. Prinzipien und Erfahrungen daraus wurden, so Eble, „zu Leitlinien des ökologischen Städtebaus“: autofrei im Innern, Integration in die Natur, Gärten, Wasser, gesunde Baustoffe, abwechslungsreiche Formensprache.

Für Joachim Eble war der Schafbrühl ein Referenz-Projekt, das ihm internationale Planungs- und Lehraufträge eröffnete: das Ökohaus in Frankfurt-Bockenheim, Quartiere in Taiwan, USA, Italien, Schweden, China, die viel beachtete Öko-Siedlung im niederländischen Culemborg, eine Anlage für 1200 Bewohner, drei Mal so viele wie im Schafbrühl. Und doch, sagt er, habe keines der späteren Projekte „diese Klarheit“ besessen wie das in Tübingen. „Es war einfach der Moment, als alle das wollten.“

Die Nachhaltigkeit bewährte sich für den Investor, weil sie zufriedene Bewohner und eine relativ stabile Belegung bewirkt. Als Nanette Velasquez vor 20 Jahren von Freiburg hierher zog, dachte sie erst an eine Übergangslösung. Doch das „reiche Sozialleben“, der Wohnungszuschnitt und der gefahrlose Auslauf für die Kinder erwiesen sich als Vorzüge, die anderswo nicht leicht zu finden waren. Und: Wer einmal in „atmenden Wänden“ gelebt hat, sagt sie, „für den kommt ein Betonhaus nicht mehr in Frage.“

Aus der Tübinger Altstadt veränderte sich Johanna Schulz vor vier Jahren auf den Schafbrühl, als das erste Kind (von inzwischen dreien) unterwegs war. „Wir kamen zufällig hier vorbei und waren angetan von dieser Oase.“ Die Biologin freut sich an der Artenvielfalt in ihrer Wohnumgebung, über die Molche im Teich, aber sie schätzt auch die Ästhetik. „Die Architekten haben sich hier wirklich was gedacht.“ Den Traum vom eigenen Haus träumt ihre Familie längst nicht mehr, zumal die Mieten im Schafbrühl für Tübinger Verhältnisse akzeptabel sind.

„Ureinwohner“ Eberhard Fuchs wurde in mehr als 30 Jahren auch „Überzeugungswohner“. Er kann sich nichts Besseres vorstellen. Das hat er auch der Gutachterin des Denkmalamts gesagt, die sich seine Wohnung ansah. „Es ist gut, dass hier nun alles so bleiben muss, auch wenn mal der Besitzer wechselt“, sagt Fuchs. Das ist nämlich bereits vorgekommen: Die Siedlung gehört inzwischen einer Wüstenrot-Tochter.

Das einst so viel besuchte Ensemble liegt heute fast wie verwunschen hinter seinem grünen Mantel. Am Bach spielen Kinder, auf dem Spielplatz wird gematscht, in den Gemeinschaftsgärten glänzen rote Tomaten, der Quittenbaum hängt voll mit Früchten. Der verwachsenen Grünanlage täte allerdings ein Facelifting gut, um ihre vielseitige Struktur wieder in Erinnerung zu rufen, den Grünraum auszulichten, überwucherte Sitzstufen ans Licht zu holen. Manche der beteiligten Landschaftsarchitekten haben schon signalisiert, dass sie gern dabei mitmachen würden. Schließlich ist es auch ihr Kulturdenkmal.

Aus der Begründung der Denkmalbehörde

Pionierleistung im ökologischen Siedlungsbau, aber auch eine gebaute Sozialidee: so würdigt das Landesamt für Denkmalpflege in seiner Begründung der Denkmaleigenschaft die Siedlung Schafbrühl. Das Experiment, ökologische Prinzipien auch im Mietwohnungsbau anzuwenden, sei „ein Glücksfall für Tübingen“ gewesen, wegweisend „für einen neuen, nachhaltigen Städtebau, der sich bewusst als Gegenmodell zu den Siedlungen der Nachkriegsmoderne (...) positionierte“. Zahlreiche ökologische Wohnprojekte im In- und Ausland, „letztlich auch die Tübinger Vorzeigequartiere der jüngeren Vergangenheit, wie etwa das Französische Viertel, gehen auf diese Wurzeln zurück“. Der Schafbrühl sei ein Kulturdenkmal „aus wissenschaftlichen (insbesondere stadtbau- und architekturgeschichtlichen), künstlerischen und heimatgeschichtlichen Gründen“.

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Erstellt:
11.08.2018, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 51sec
zuletzt aktualisiert: 11.08.2018, 01:00 Uhr

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