Kriminalpsychologin Ursula Gasch zum Missbrauchsskandal

Gasch: Klerikale Strukturen und rigide Sexualmoral begünstigen sexuellen Missbrauch von Kindern

Auch wenn die Dunkelziffer noch höher liegen dürfte – schon die offiziellen Zahlen sind erschreckend: Zwischen 1946 und 2014 sollen 1670 katholische Kleriker 3677 Minderjährige sexuell missbraucht haben.

02.10.2018

Von Philipp Koebnik

Die Kriminalpsychologin Ursula Gasch prüft die Persönlichkeitsreife von Priesteramtskandidaten in der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Bild: Koebnik

Die Kriminalpsychologin Ursula Gasch prüft die Persönlichkeitsreife von Priesteramtskandidaten in der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Bild: Koebnik

Das geht aus einer jüngst veröffentlichten Studie hervor, die ein Konsortium aus verschiedenen wissenschaftlichen Einrichtungen im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz erstellt hat. Demnach waren 4,4 Prozent aller Kleriker der deutschen Bistümer mutmaßliche Täter, in jedem sechsten Fall sei es zu Formen der Vergewaltigung gekommen.

„Die Ergebnisse haben mich gar nicht überrascht“, sagt die Tübinger Kriminalpsychologin Ursula Gasch im Gespräch mit dem TAGBLATT. Dabei decke die Studie lediglich den „Bodensatz“ der Verbrechen auf, so Gasch. Das so genannte Dunkelfeld sei groß. Sie schätzt, dass sich nicht 4,4 Prozent, sondern eher 6 bis 7 Prozent der kirchlichen Würdenträger schuldig gemacht haben. Und: Die Autoren der Studie hatten selbst gar keinen Zugriff auf die Originalakten. Alle Archive und Dateien wurden von Kirchenmitarbeitern durchgesehen und erst dann den Wissenschaftlern zugänglich gemacht.

Der Umgang der einzelnen Bistümer mit der Problematik sei ganz unterschiedlich. So haben laut Gasch nur sechs der 27 deutschen Diözesen Maßnahmen ergriffen, um Priesteramtskandidaten verstärkt auf ihre Persönlichkeitsreife hin zu überprüfen. Dazu gehört seit 2002 die Diözese Rottenburg-Stuttgart, deren Kandidaten vor der Aufnahme ins Stift auch ein intensives Gespräch mit Gasch führen.

Bemerkenswert sei, dass viele klerikale Missbrauchstäter zwar über eine intellektuelle Reife verfügen, „aber im psychosexuellen Bereich sehr unreif sind“. Das fange schon mit der banalen Frage an: „Kann jemand überhaupt über Sexualität reden?“ Zur Prüfung der Persönlichkeit gehört es, die berufliche Motivation unter die Lupe zu nehmen. Denn die katholische Kirche wirke durchaus anziehend auf Menschen, die mit ihrer Sexualität nicht umgehen können und eine Nische suchen, um diese unbeobachtet auszuleben – auf Kosten Schwächerer: „Es gibt Männer, die sich hinter der rigiden Sexualmoral und den kirchlichen Strukturen verstecken.“

Doch wie kommt es dazu, dass Erwachsene Minderjährige sexuell missbrauchen? Im Wesentlichen gebe es drei Motive, so Gasch, die sich bisweilen überschneiden. Oftmals erfülle das Opfer eine Ersatzfunktion. Der Täter sucht Nähe, emotionale Zuwendung und ein Gefühl des Angenommen-Seins, das er woanders nicht erfährt. In seinen Augen bieten sich Kinder dazu an, denn sie sind „arglos, lieb und werten nicht“. Ein anderes Motiv ist sexuelle Ausbeutung: Gerade dann, wenn dem Täter sexuelle Handlungen mit gleichaltrigen oder adäquaten Partnern versagt sind, missbraucht er auch Menschen, die eigentlich nicht seiner sexuellen Neigung entsprechen. So erklärt sich, weshalb im Gefängnis nicht wenige heterosexuelle Männer andere Männer sexuell missbrauchen – nach dem Motto: „Dann nehme ich das, was ich zur Verfügung habe“, so Gasch.

Drittens gebe es sexuelle Aggression, also Gewalt, bei der Sex im Grunde nur eines von mehreren möglichen Mitteln ist, um Dominanz auszuüben. Dieser Tätertyp sei ganz klar sadistisch veranlagt. „Sexualität war schon immer ein bevorzugtes Mittel der Unterdrückung und Gewaltausübung“, sagt Gasch. Auffällig ist, dass geistliche Sexualstraftäter im Vergleich zu anderen Sexualstraftätern internationalen Studien zufolge bei ihrer Tat überproportional häufig sadistische Züge aufweisen.

Wissenschaftlich erwiesen ist laut Gasch, dass die sexuelle Vorliebe der Täter sich nicht unbedingt im Geschlecht der Opfer widerspiegelt. Heterosexuelle Kleriker missbrauchen auch Jungen. Homosexuelle Täter vergehen sich vorzugsweise an eben geschlechtsreifen Jugendlichen. Auch ist es nicht so, dass alle oder die meisten Täter selbst Missbrauch erfahren hätten.

Viel diskutiert wird dieser Tage auch wieder die Bedeutung des Zölibats. An sich sei dieser „mit Sicherheit kein Entstehungsgrund für pädophile Neigungen“, so Gasch. Doch habe schon der Report „Das sexuelle Verhalten des Mannes“ des US-amerikanischen Sexualforschers Alfred Charles Kinsey von 1948 gezeigt, dass Isolation und Einsamkeit nicht selten zu Ersatzhandlungen führen. Das gelte für zwangsweise Entsagung (Gefängnis) ebenso wie für selbstauferlegte (Zölibat). „Das ist nichts Neues“, betont die Psychologin. Manche Betroffene begnügten sich mit ihrer Fantasie, andere würden übergriffig.

Für die Opfer hat der Missbrauch weitreichende Konsequenzen. Ihre Bindungsfähigkeit kann auf viele Jahre hinaus gestört werden. Psychische Erkrankungen, Selbstverletzungen oder gar Suizid sind oft die Folge. Es handle sich um Taten, die die Opfer „wie ein Erbe den Rest ihres Lebens mit sich tragen“, so die Psychologin. Der Priester ist für Kinder und Jugendliche oft eine besondere Vertrauensperson. Er soll den jungen Menschen Orientierung geben, sie auf das Leben vorbereiten. „Ein Geistlicher kann Vater-gleich sein für ein Kind“, betont Gasch. „Es gibt kaum etwas Schlimmeres, als von einer Vertrauensperson missbraucht zu werden.“

Die Profilerin

Ursula Gasch ist Diplom-Psychologin und Kriminologin. Sie leitet das private Institut für Gerichts- und Kriminalpsychologie in Tübingen. Die 53-Jährige erstellt Glaubwürdigkeitsgutachten und Kriminalprognosen, lehrt an Ausbildungseinrichtungen von Polizei, Justiz und Unternehmen, ist Lehrbeauftragte für Forensische Psychologie im Masterstudiengang Kriminalistik an der privaten Steinbeis-Hochschule Berlin. Sie war langjährige Beraterin der baden-württembergischen Polizei in Fällen schwerster Gewaltkriminalität. In ihrer Arbeit hat sie es häufig mit Sexualstraftaten zu tun.