Die Polarisierung überwinden und ins Gespräch kommen

TAGBLATT-Chefredakteur Gernot Stegert über die Vorwürfe des Palmer-Bashings

Was war das denn? Das fragen wir uns beim Streit zwischen Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer und einem Studenten. Und das fragen wir uns bei den Reaktionen auf unsere Berichterstattung.

29.11.2018

Von sg

Symbolbild: Erich Sommer

Symbolbild: Erich Sommer

Hätte man ignorieren sollen, worüber mittlerweile gefühlt alle Medien in Deutschland berichtet haben. Die vielen Vorwürfe in den Leserbriefen, wir würden Palmer-Bashing betreiben, lassen uns nicht kalt. Wie kommt dieser Eindruck zustande, der unserer Meinung nach falsch ist? Was können wir dagegen tun? Schon mehrfach haben wir in der Redaktionskonferenz darüber intensiv diskutiert, auch gestern wieder.

Wir haben keine fertigen Antworten, nur Ansatzpunkte. Der erste sind wir selbst. Kritik der Politik und Politiker bleibt Aufgabe der Presse. Auch Klartext muss möglich sein. Aber die Wahrnehmung und Akzeptanz haben sich spürbar verändert. Dafür war manches „Übrigens“ rückblickend zu heftig geschrieben. Viele fordern zudem eine objektive Berichterstattung. Sie wird immer ein Ideal bleiben, wie Medienwissenschaftler schon vor Jahrzehnten aufgezeigt haben. Aber es gibt journalistisches Handwerk der Objektivierung: Dazu gehört das Anhören beider Seiten eines Streits und die Trennung von Nachricht und Meinung. Beides praktizieren wir, hat auch Ulrich Janßen in der Berichterstattung über den Vorfall in der Pfleghofstraße beherzigt. Aber immer wieder rutschen Formulierungen in einen Bericht, die wertend sind oder in einer sensiblen Lage als wertend empfunden werden. Da wollen wir besser aufpassen.

Zweiter Ansatzpunkt ist eine selektive Wahrnehmung. Aus unserer Sicht bilden wir uns eine Meinung zu einer Sache unabhängig von der Person – ob Palmer oder jemand anderes. Das ergibt dann mal Kritik und mal Lob. Das sehen viele Leser auch so, viele jedoch nicht. Ihnen sei gesagt: Wir schreiben viel Positives über Boris Palmer, berichten über sein tatkräftiges Handeln als Oberbürgermeister, haben oft seine Position unterstützt – bei heiklen Themen wie Gewerbeansiedlung etwa. Sogar zur Flüchtlingspolitik ist ein „Übrigens“ erschienen mit lauter zustimmenden Punkten. Im Archiv ließen sich viele Beispiele finden. Es gibt beim TAGBLATT keine Agenda gegen den Tübinger OB. Noch das „Übrigens“ am Samstag begann mit wertschätzenden Sätzen. Doch alles Positive und Differenzierte geht unter. Das muss zu denken geben.

Selbst schuld, werden viele sagen, das TAGBLATT hat doch eskaliert. Wir haben gewiss dazu beigetragen. Aber nur wir? Am liebsten würde ich jetzt ausführen, wie Palmer seit langem gegen das TAGBLATT Stimmung macht und wie er und andere sich mit dem Vorwurf „Palmer-Bashing“gegen Kritik immunisieren. Doch dann würde ich tun, was ich nicht will: mir einen Schlagabtausch liefern.

Und da sind wir bei einem dritten Ansatzpunkt. Er besorgt Palmer wie uns: die Polarisierung und Emotionalisierung der Gesellschaft, der privaten wie politischen Kommunikation. Immer öfter wird aus einer Debatte ein Streit und gehen die Parteien aneinander hoch. Ja, der Zusammenhang ist noch größer: Unflätige Äußerungen und rüpelhaftes Benehmen wird aus vielen Alltagsbereichen berichtet. Was können wir alle dagegen tun? Das TAGBLATT, Oberbürgermeister Palmer, jeder Leser, jede Leserin?

Wir haben alle Leserbriefe zu unserer Berichterstattung über den Streit zwischen Palmer und dem Studenten in der Pfleghofstraße abgedruckt, auch die, die uns wehtaten. Das ist TAGBLATT-Tradition, und das müssen und wollen wir auch in Zukunft aushalten. Obwohl es in Zeiten ständiger „Lügenpresse“-Beschimpfungen auch aus der bürgerlichen Tübinger Mitte nicht immer leicht fällt. Gut tun da die vielen zustimmenden Reaktionen, die bei uns außerhalb der Leserbriefe eingehen.

Insgesamt gab es bisher über 50 Leserbriefe zum Thema. Wir laden alle Schreiber zu einem Leser-Forum ein. Wir wollen hören: Was genau kritisieren sie, was wünschen sie sich von ihrer Lokalzeitung? Der aktuelle Anlass soll der Auftakt für eine Reihe von Foren sein. Wir möchten mehr als bisher mit unseren Leserinnen und Lesern ins Gespräch kommen.