Literatur

Die Phantome des Obstgärtners

Peter Handkes neue Künstlernovelle erzählt von Besessenheit und Heilung.

13.04.2021

Von GEORG LEISTEN

: Mein Tag im anderen Land. Eine Dämonengeschichte. Suhrkamp, 93 Seiten, 16 Euro. Foto: Suhrkamp Verlag

: Mein Tag im anderen Land. Eine Dämonengeschichte. Suhrkamp, 93 Seiten, 16 Euro. Foto: Suhrkamp Verlag

Passanten, die beim Gehen die Arme zu weit ausschwingen, müssen sich vor ihm in Acht nehmen. Auch Menschen mit hoher Stirn. Oder mit Stupsnasen. Sogar den zwitschernden Amseln brüllt er „Maul halten!“ in die Baumwipfel hinauf. Kein angenehmer Zeitgenosse, dieser namenlose Ich-Erzähler. Von Beruf ist er Gärtner und Verfasser eines Fachbuchs über Spalierobst, aber am liebsten würde er die ganze Welt an den Wurzeln packen und ausreißen wie Unkraut. „Nieder mit der Schöpfung!“ lautet sein einziger toxischer Glaubenssatz. Er ist verrückt, will heißen: ver-rückt. Ein Zustand, der etwas mit einer Ortsverschiebung zu tun hat.

„Mein Tag im anderen Land“ überschreibt sich das neue Prosawerk von Peter Handke. Im Untertitel wird das Ganze als „Dämonengeschichte“ bezeichnet. Geht es doch nicht um moderne Krankheitsbilder wie Schizophrenie oder Psychose, sondern um eine altmodische Form von Wahnsinn. Und um seine geradezu biblische Heilung. Denn zu den vielen versteckten Vorbildern, die das Büchlein halb ehrfürchtig, halb augenzwinkernd zitiert, gehört auch die Episode über den Besessenen von Gerasa aus dem Markus-Evangelium.

In diesen Anspielungsteppich hat der Literaturnobelpreisträger zwei rote Fäden seines gesamten Schreibens eingewebt. Da ist zum einen der Bezug auf Handkes im Krieg gefallenen Patenonkel, der tatsächlich eine Art Obstbaufibel geschrieben hat. Und zum anderen der romantische Topos des Dichters, den die poetische Bestimmung zum Außenseiter in der Gesellschaft macht. Mitunter erinnert die rhetorische Raserei des Wahnsinnsgärtners an Figuren wie Friedrich Hölderlin.

Aus dem Dorf vertrieben

Handkes Held indes wohnt nicht in einem Turm, sondern auf einem alten Friedhof, nur von der Schwester umsorgt. Irgendwann hat die Dorfgemeinschaft genug und jagt den Störenfried davon: „Nein, du gehörst nicht zu uns, Freund. Du hast hier nichts zu suchen. Weg mit dir.“

Auf die Meinung der Leser hat der 78-jährige Autor noch nie viel gegeben, doch diesmal spricht er dem Publikum überraschenderweise eine zentrale Rolle zu. Ausgerechnet eine schlafwandlerische Gestalt namens „der Gute Zuschauer“ treibt dem Narren all seine Teufel aus. Auf Weisung des allegorischen Erlösers startet der Protagonist mit dem Motorboot in ein Land „hinter dem See“. Dort soll er von sich erzählen. Einen Tag nur dauert der Ausflug, trotzdem ist es eine Lebensreise. Zurückgekehrt aus der Anderswelt, hat der Held die Phantome der Tobsucht verloren und die Frau seines Lebens gefunden.

Ihren Charme gewinnt diese Künstlernovelle durch den klaren, einfachen Ton ihrer Sprache wie durch die unaufgeregte Zeitlosigkeit einer Legende. Konkrete Bezugnahmen auf die Gegenwart darf man von dem Autor, der sich Journalisten gegenüber einmal als Nachfahre von Homer und Cervantes bezeichnete, nicht erwarten. Gleichwohl glaubt man im ruhigen Rhythmus dieser neuesten Handke-Sätze das stumme Echo eines großen Corona-Lockdowns zu vernehmen. Es sind nicht zuletzt die wertvollen Begegnungen im Land der Selbsterkenntnis, die den Obstgärtner des Wortes aus seiner Isolation herausfinden lassen. Georg Leisten

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Erstellt:
13.04.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 28sec
zuletzt aktualisiert: 13.04.2021, 06:00 Uhr

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