Mit Engelszungen

Die Nummer vor der Wurst

22.03.2016

Von Kathrin Löffler

Symbolbild: Timmary - Fotolia.com

Symbolbild: Timmary - Fotolia.com

Wenn es um seine Wurst geht, neigt der Mensch nicht zu Pazifismus. Vor allem nicht in der Reutlinger Markthalle. An gewöhnlichen Montagvormittagen präsentiert sich der Frischwarentempel zwar als elysisches Paralleluniversum für Regionalkostfetischisten: Die brotberufsgebundenen Konsumentenmassen sind fern, kein Trubel verstopft die Gänge. Urgetreidenudeln, Bio-Dinkelkürbisseelen und sommersonnengelbe Heumilchkäselaibe laden zum kontemplativen Begutachten und Auswählen.

Doch an Wochenenden geht es dort anders zu. Meuteweise fällt dann die High-End-Nahrungsmittel-Zielgruppe ein. Und wenn die ihre Viktualienvorräte auffüllt, zeigt sich: Der gemeine Slow-Food-Genießer taugt nicht unbedingt zum Slow Shopper. Stattdessen gilt auch für ihn die alte Hamsterer-Parole: Ich zuerst, aber zack!

Ludwig Failenschmid hat es miterlebt. Er ist Chef der gleichnamigen Metzgerei in St.Johann-Gächingen. In der Filiale in der Markthalle sah er regelmäßig Menschen am Rande der Rage. Im Angesicht des letzten Schwarzwurstrings traten sämtliche zivilisatorischen Errungenschaften außer Kraft. Gesittetes Schlangestehen? Pöh!. Failenschmid spricht von einem „riesen Theater“, das sich freitags und samstags unter den Kunden abgespielt habe. Die hätten vor der Warenauslage „mitnander z’Hendla“ angefangen.

Im Reutlinger Ableger der Albmetzgerei türmen sich Saiten und Rauchfleischberge, Schwartenmagendosenstapel warten auf rustikale Gaumen, Lammgulasch füllt Schüsseln, luftgetrockneter Albbüffelschinken buhlt um den anspruchsvollen Tierproduktsgourmet. Gute 17 Meter misst die Failenschmidsche Verkaufstheke. 17 Meter, an denen alle Verlustängste dieser Welt kulminierten. 17 Meter, an denen sich die Angst um den letzten Pfeffersalamizipfel Bahn brach. 17 Meter, die kultivierte Qualitätswurstverbraucher im Wettstreit mit der Käuferkonkurrenz die Contenance verlieren ließen. „Locker 25 bis 30“ wollen hier freitags und samstags zeitgleich bedient werden, sagt Fleischereifachverkäuferin Rose Urban. Sieben ihrer Kollegen sind zur Wurst-Rushhour im Einsatz. Für sie war es früher unmöglich, die Ankunftsreihenfolge der erwerbs- und streitfreudigen Kundschaft zu überblicken. Zudem erwies sich der Beef ums Beef als unlukrativ. Urban: „Narrete Kunden kaufen nur das Nötigste.“

Failenschmid hatte genug. Am Ostersamstag 2015 führte er disziplinarische Strenge in seinem Laden ein: Wer Ochsenmaulsalat und Hackfleisch kaufen will, muss seitdem erst eine Nummer ziehen. Bedient wird strikt chronologisch. In der Wurstbranche sind solche pädagogischen Maßnahmen eigentlich nicht Usus. Metzgereien, die nach ähnlich bürokratischem Regelwerk verfahren, gibt es erst in Ebingen und Filderstadt. Failenschmid bekam von einem Kunden zu hören, er fühle sich nun „wie auf dem Finanzamt“. Doch für den Metzger war es die einzig mögliche Rettung vor der „großen Dramatik“ jenseits des Tresens. Verkäuferin Urban bilanziert nach einem Jahr Laufzeit: Die auferzwungene Benimmschule habe sich „absolut bewährt“. Laut Chef bruddelten einzig jene, die auch vorher schon gebruddelt hätten. Allerdings kämen in die Metzgerei auch stets viele neue Kunden. Vorteil: Die lassen sich gleich von vornherein zu Sitte und Anstand erziehen. /