Zeitgeschichte

Die Moral des Erinnerns

Claude Lanzmann ist tot. Seine Dokumentation „Shoah“ ist der bedeutsamste Film über den Holocaust.

06.07.2018

Von MAGDI ABOUL-KHEIR

Claude Lanzmann 2017 in Cannes. Foto: Anne-Christine Poujoulat/afp

Claude Lanzmann 2017 in Cannes. Foto: Anne-Christine Poujoulat/afp

Paris. Wäre Claude Lanzmann in den Besitz eines geheimen Films aus den Gaskammern von Auschwitz gekommen, er hätte ihn nicht nur nicht gezeigt: „Ich hätte ihn sogar vernichtet.“ Und doch hat eben dieser Claude Lanzmann, der gestern im Alter von 92 Jahren in seinem Haus in Paris gestorben ist, den bedeutsamsten Film über den Holocaust gedreht: „Shoah“.

Darin zeigte Lanzmann neun Stunden lang keine einzige Leiche, schon gar nicht hat er das Töten in Szene gesetzt. „Shoah“ besteht aus Interviews mit Opfern und Tätern, aus ruhigen Kamerafahrten an den Orten, an denen einst Millionen Juden ermordet wurden. Es ist allein die Macht der Worte, die die größte Barbarei des 20. Jahrhunderts begreifbar macht – insofern dies überhaupt möglich ist.

Von 1974 bis 1985 hat Lanzmann an „Shoah“ gearbeitet, seine dokumentarische Annäherung an den Nazi-Schrecken gilt als meisterhaftes Kulturwerk über einen unfassbaren Kulturbruch. Dabei war er kategorisch der Ansicht, dass man das Grauen im KZ nicht bebildern dürfe: „Der Holocaust ist vor allem darin einzigartig, dass er sich mit einem Flammenkreis umgibt, einer Grenze, die nicht überschritten werden darf, weil ein bestimmtes, absolutes Maß an Gräuel nicht übertragbar ist. Wer es tut, macht sich der schlimmsten Übertretung schuldig. Die Fiktion ist eine Übertretung, und es ist meine tiefste Überzeugung, dass jede Darstellung verboten ist.“ Geschrieben hat Lanzmann das, als er 1993 „Schindlers Liste“ sah – und enttäuscht war, dass solch ein Hollywood-Filmdrama nach „Shoah“ gemacht worden war.

Lanzmann kam 1925 in Paris auf die Welt, als Sohn einer Mittelstandsfamilie jüdischer Abstammung. Mit 18 kämpfte er in der Résistance gegen die Besatzer. Dass er Deutsche getötet hat, daraus machte er keinen Hehl. Doch nach dem Krieg studierte er im Land des Feindes: Philosophie in Tübingen. Er wurde Lektor an der Freien Universität Berlin, ging nach Frankreich zurück, arbeitete als Journalist, dabei kam es zum engen Austausch mit Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir, mit der er sieben Jahre lang zusammen war. Später war Lanzmann mit der deutschen Schriftstellerin Angelika Schrobsdorff verheiratet.

Es waren antisemitische Stimmungen in der 68er-Zeit, die ihn zur profunden Auseinandersetzung mit Israel und dem Holocaust führten – und mit seiner eigenen jüdischen Herkunft. Nach dem ersten Dokumentarfilm „Warum Israel“ (1972) begann er die Arbeit an „Shoah“. Es sollte der Monolith seines Lebenswerks werden. Ein Film, der, wie er sagte, „gegen seine eigene Unmöglichkeit entstand“.

Sechs Jahre lang nahm er Interviews auf, in Polen, aber auch in 13 anderen Ländern. Danach dauerte es weitere fünf Jahre, bis er die rund 350 Stunden Material geschnitten und verdichtet hatte. „Shoah“ enthüllt die Funktionsweise der Nazi-Tötungsmaschinerie, das inhumane Treiben in den Lagern Chelmno, Treblinka, Auschwitz-Birkenau und im Warschauer Ghetto. Aber „Shoah“ stellt ebenso den Überlebenswillen der Gefangenen heraus.

Vor allem ist es ein Film über das Erinnern. Lanzmann wusste nicht nur um die Macht des Wortes, sondern auch um die Kraft des bewegten, bewegenden Bildes. Denn es waren und sind just die Massenmedien Film und Fernsehen (man denke nur an die TV-Serie „Holocaust“ von 1978), die das Massenmorden der Nazis tief ins Gedächtnis der Menschheit eingeschrieben haben. Lanzmann antwortete auf die Frage, ob er Frankreich oder Israel als Heimat ansehe: „Meine Heimat ist mein Film.“ Und es war eben Lanzmanns Film „Shoah“, der auf nicht zu widerlegende Art manifestierte: Es waren reale Menschen, keine Teufel, die all das anderen Menschen angetan haben.

Bis ins hohe Alter setzte sich Lanzmann für die Erinnerungskultur ein und bekämpfte den Antisemitismus. „Ich bin unbeugsam, weil ich an die Wahrheit glaube“, sagte er. Mit dieser aufrechten Haltung hat er noch weitere Filme gedreht. Und er hat wichtige Preise erhalten, etwa vor fünf Jahren den Ehrenbären der Berlinale. In der deutschen Metropole geehrt zu werden, sei für ihr etwas Spezielles, erzählte er damals, „weil ich eine sehr enge und besondere Beziehung zu der Stadt habe. Ich habe zwei Jahre hier gelebt, die Zeit der Luftbrücke erlebt, Berlin in Schutt und Asche gesehen. Und deshalb ist sehr schön, hier ausgezeichnet zu werden.“

Lanzmann und die Deutschen, das war ein kompliziertes Verhältnis, er glaubte an die Kollektivschuld: Was im Dritten Reich geschah, „hätte nicht geschehen können ohne einen allgemeinen Konsens der deutschen Nation“, befand er. Aber Lanzmann erkannte auch, dass sein Film „nach dem langen Schweigen eine Befreiung für die Deutschen sein würde, um immer offener über ihren eigenen Schmerz zu sprechen“. Mit seiner Erinnerungsarbeit als Regisseur habe Claude Lanzmann „Versöhnung erst möglich gemacht“, schrieb gestern Bundesaußenminister Heiko Maas. Daher sollten auch gerade die Deutschen diesem Filmemacher und seinem singulären Werk dankbar sein.

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Erstellt:
06.07.2018, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 27sec
zuletzt aktualisiert: 06.07.2018, 06:00 Uhr

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