Mordprozess

Die Kugel trifft den Falschen

In Hechingen stehen drei Italiener vor Gericht, die wegen einer offenen Drogenrechnung einen Landsmann erschießen wollten – aber einen jungen Kurden töteten.

02.06.2017

Von HARDY KROMER

Spurensuche am Tatort an der Hechinger Staig. Dort war am Abend des 1. Dezember 2016 ein junger Mann aus einem vorbeifahrenden Auto heraus erschossen worden. Die mutmaßlichen Todesschützen stehen jetzt in Hechingen vor Gericht.F Foto: A9999/_Sdmg / Maurer

Spurensuche am Tatort an der Hechinger Staig. Dort war am Abend des 1. Dezember 2016 ein junger Mann aus einem vorbeifahrenden Auto heraus erschossen worden. Die mutmaßlichen Todesschützen stehen jetzt in Hechingen vor Gericht.F Foto: A9999/_Sdmg / Maurer

Hechingen. Auf den Tag genau vor einem halben Jahr war die Kleinstadt Hechingen (Zollernalbkreis) im Schockzustand: Am frühen Abend des 1. Dezember wurde mitten in der Stadt auf offener Straße ein Mensch aus einem Auto heraus erschossen. Die Täter rasten in einem roten Fiat davon. Das Opfer war ein 22-Jähriger aus der Nachbargemeinde Bisingen – ein junger Mann aus einer kurdischen Familie. 24 Stunden nach der Tat bescherten ihm Hunderte von Verwandten und Freunden eine bewegende Abschiedszeremonie. Noch heute stehen Kerzen, Blumen und Bilder am Tatort, den die Freunde zum Gedenken an das Opfer „Umut-Platz“ nannten.

Der erschossene Umut K. wurde von seinen Lehrern als Musterschüler geschildert. Er hatte Abitur gemacht, jobbte in der Medizintechnik-Branche, wollte in Konstanz Jura studieren, engagierte sich im Jugendgemeinderat, spielte im Verein Fußball. Sein Profil entspricht so gar nicht dem Klischee des Opfers einer Schießerei im Drogenmilieu.

Als solche hatte die Hechinger Staatsanwaltschaft die Bluttat schon am nächsten Tag eingeordnet, nachdem die Sonderkommission der Kripo in einem Stadtteil von Burladingen zwei junge Italiener festgenommen hatte, die mutmaßlich in Marihuana-Geschäfte verwickelt waren. Das Tatfahrzeug, der rote Fiat, hatte die Fahnder auf die Spur der beiden jungen Männer geführt. Die Tatwaffe blieb dagegen bis auf den heutigen Tag verschwunden.

Was aus dem Freundeskreis des Opfers schon bald gestreut worden war, schlägt sich jetzt auch in der Anklageschrift nieder, die Staatsanwalt Markus Engel am Donnerstagmorgen im Schwurgerichtssaal des Hechinger Landgerichts verlas: Nicht Umut K. sollte erschossen werden, sondern ein 25-jähriger Landsmann der jetzt angeklagten Italiener. Das Motiv: eine offene Drogenrechnung über 5000 Euro. Der 25-Jährige, meinen die Ankläger, sollte getötet werden, um einen weiteren Geschäftspartner in Todesangst zu versetzen. Der junge Kurde, der schicksalshaft in die Brust getroffen wurde und wenige Minuten später starb, war wohl einfach zur falschen Zeit in falscher Begleitung am falschen Platz. Die Staatsanwaltschaft hält es zwar für möglich, dass auch er am Rande in den Drogendeal einbezogen war. Zumindest im engeren Sinne war er aber unbeteiligt.

Die spannende Frage in dem Prozess, der bis in den September hinein dauern könnte, ist: Wie wird der Todesschuss rechtlich gewürdigt? Wie der Vorsitzende Richter Hannes Breucker zum Prozessauftakt erläuterte, geht die Anklage von der juristischen Konstruktion des „aberratio ictus“, des fehlgegangenen Schusses, aus: Die Angeklagten hätten dieser Annahme zufolge „zufällig und fahrlässig“ den falschen Mann getroffen. Deshalb sind der 21-Jährige und der 20-Jährige, die im Fiat saßen, „nur“ wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit fahrlässiger Tötung angeklagt. Bei einer Verurteilung würde sie ein Strafrahmen zwischen drei und 15 Jahren erwarten. Der Vorsitzende der Großen Jugendkammer wies jedoch darauf hin, dass die Beweisaufnahme auch „vollendeten heimtückischen Mord aus Habgier“ ergeben könnte – falls die Angeklagten Umut K.s Tod „zumindest billigend in Kauf genommen haben, weil sie die 5000 Euro unbedingt haben wollten“. Sollte Erwachsenenstrafrecht angewandt werden, könnte ihnen mithin auch eine lebenslange Haftstrafe drohen.

Die Angeklagten, die gegenüber den Ermittlern beharrlich geschwiegen hatten, kündigten an, Angaben zur Sache machen zu wollen. Dazu werden sie jedoch erst am zweiten Verhandlungstag, am Mittwoch, 21. Juni, gehört. Am ersten Tag kam der Vater des Opfers zu Wort. Er schilderte Umut als Mustersohn, räumte aber Familienkrisen in früheren Jahren ein. Als Siebenjähriger habe Umut eine Frau vom Jugendamt gefragt: „Wie viele Kilometer sind es von der Erde zum Himmel?“ Hier versagte dem Vater die Stimme, und aus den Zuhörerreihen drang leises Schluchzen. Dort saßen drei Dutzend Freunde und bildeten eine eindrucksvolle Phalanx – alle in schwarzen T-Shirts mit einem Bild Umuts.

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Erstellt:
02.06.2017, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 53sec
zuletzt aktualisiert: 02.06.2017, 06:00 Uhr

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