Tübingen · Handel

Die Innenstädte stehen am Rande einer Pleitewelle

Das Modehaus Zinser steckt im größten Kampf seiner Geschichte und schlägt im zweiten Lockdown Alarm: Umsatzeinbruch und mickrige Hilfen bedrohen die Branche.

13.01.2021

Von Eike Freese

„Wir machen auf ... merksam“ Bild: Hans-Jörg Schweizer

„Wir machen auf ... merksam“ Bild: Hans-Jörg Schweizer

Still ist es in den großen Verkaufsräumen im Tübinger Modehaus Zinser. Wo sich sonst auf rund 11000 Quadratmeter Verkaufsfläche Kunden tummeln, hängen nun neue Wintermäntel und Pullover unverkauft an den Kleiderständern. Es sind riesige Mengen Kleidung, für die die Modehaus-Kette im Einkauf rund 8 Millionen Euro bezahlt hat und für die nicht mehr viel Zeit bleibt, um sie zu verkaufen. „Die Zeit drängt, und unsere Branche rechnet gerade in Wochen, nicht in Monaten“, sagt Christian Klemp, Sprecher der Geschäftsführung, dem TAGBLATT.

Bis tief in den Herbst hinein hatte sich der Einzelhandel darauf verlassen, dass es zur Pandemiebekämpfung keinen kompletten Branchen-Lockdown geben würde. Nun sitzen Händler von Husum bis Lindau nach einem eh schon beispiellos heftigen Jahr auf ihrer Ware. Der Tübinger Moderiese rechnet mit Umsatzverlusten von 35 Millionen Euro bis zum Ende des Geschäftsjahres im Frühjahr. Normal wäre ein jährlicher Gesamtumsatz von 87 Millionen in den acht großen Häusern in Tübingen, Reutlingen, Herrenberg, Offenburg, Singen, Lahr und Villingen-Schwenningen. „Das ist ein Minus, das uns keiner ersetzt“, so Klemp. „Es gibt Modehäuser in unserer Größenordnung, die halten nur noch wenige Wochen durch.“

Die Zinser-Geschäftsführung gibt aktuelle Unternehmenszahlen ungewöhnlich offen ans TAGBLATT weiter. „Die Situation im Einzelhandel ist so ernst, dass wir die Lage einfach allen klarmachen müssen“, so Klemp. 660 Beschäftigte arbeiten derzeit für Zinser, es hätten 120 Leute mehr sein können, wenn das Jahr nicht so gelaufen wäre, wie es gelaufen ist. Eingestellt wurde aber nicht: Stattdessen hat Kurzarbeit die Personalkosten zwar etwas senken können, doch die sind auch nur ein Teil der Ausgaben in der Modebranche, die von der Krise speziell getroffen ist.

„Wir handeln mit verderblichen Gütern“, sagt Zinser-Co-Chef Steffen Mächtle. Im Normalfall hätte Zinser am Jahresende 25 Prozent des Jahresumsatzes gemacht. Diese Saison fällt nun aus. Schon im November bummelte kaum noch jemand, das Weihnachtsgeschäft war sowieso passé. „Und selbst wenn wir im Februar noch einmal öffnen könnten“, so Mächtle, „das Hauptgeschäft ist vorbei.“ Und das nach einem Jahr, in dem selbst in guten Monaten ein heftiges Umsatzminus zu verzeichnen war. Allein im ersten Shutdown wurden 1,5 Millionen Textilien in Baden-Württemberg nicht verkauft. Pro Tag.

Auf Staatsgeld können sich Häuser wie Zinser in dieser Situation bislang nicht stützen. Auf die Überbrückungshilfen 1 und 2 hatte das Modehaus keinen Zugriff: Nicht weil es keine Probleme hatte, sondern unter anderem, weil es schlicht zu groß war. Die jetzige Überbrückungshilfe 3 ist auf 500.000 Euro gedeckelt und würde Teile der Fixkosten ersetzen. Fixkosten indes, die bei Zinser ein Vielfaches betragen. Miete zahlt das Haus unter anderem an seine eigene Besitzgesellschaft, und die fällt damit aus der Berechnung. „Letztlich ist es so, dass wir in unserer 142-jährigen Geschichte zum ersten Mal ernste Verluste machen“, so Klemp.

Klar, für das Foto lächeln sie, doch letztendlich ist die Lage ernst: Die Zinser-Geschäftsführer plakatieren derzeit mit dem Claim „Mir machen auf...merksam“, der bundesweit auf die prekäre Lage im Handel hinweist. Von links: Stefan Rinderknecht, Steffen Mächtle und Sprecher Christian Klemp. Bild: Ulrich Metz

Klar, für das Foto lächeln sie, doch letztendlich ist die Lage ernst: Die Zinser-Geschäftsführer plakatieren derzeit mit dem Claim „Mir machen auf...merksam“, der bundesweit auf die prekäre Lage im Handel hinweist. Von links: Stefan Rinderknecht, Steffen Mächtle und Sprecher Christian Klemp. Bild: Ulrich Metz

Der Zinser-Chef will zwar ausdrücklich Branchen nicht gegeneinander ausspielen, betont aber, dass im November zur Akzeptanz des damaligen „Lockdown light“ etwa der Gastronomie eine Umsatz-Erstattung von 75 Prozent angeboten wurde. Seit dem härteren Lockdown blieben ähnliche Angebote an Einzelhändler aus. „Wenn die Pleiten erst einmal kommen, wird es zu spät sein“, sagt Klemp. Massiv mehr Hilfen und ein nahes Ende des Lockdowns: Das sind zwei Ansatzpunkte, die Klemp für die Wirtschaft sieht, um durch diese Phase zu kommen. „Wenn große Modehäuser und kleinere Geschäfte endgültig schließen, dann werden sich unsere Innenstädte davon nicht mehr erholen.“

Barbara Rongen gehört mit ihrem Laden „Style Affair“ zu den typischen Tübinger City-Unternehmerinnen. „Unsere Wut und Verzweiflung ist sehr groß“, sagt die Modehändlerin: „Wir werden aktuell wirklich komplett im Stich gelassen. Es ist wohl realistisch, dass die Hälfte der Händler akut insolvenzgefährdet ist.“

HGV-Vorstandsmitglied Rongen versucht ihren Betrieb irgendwie durch diese Zeit zu navigieren. Die zwei Lockdowns trafen sie im wichtigsten und zweitwichtigsten Teil des Jahres. Klar gab es Soforthilfen und Überbrückungshilfen, aber allein die Fixkosten im unteren fünfstelligen Bereich seien damit nicht ansatzweise gedeckt, so Rongen.

Investiert hat sie natürlich trotzdem, Modeläden müssen frühzeitig einkaufen. „Es hieß ‚Den Einzelhandel würden wir mit dem Wissen von heute nicht mehr schließen‘“, sagt die Unternehmerin: „Natürlich haben auch wir Nachbestellungen gemacht, alles andere wäre ja völlig verantwortungslos gewesen.“ Sechsstellige Umsätze sind ihr insgesamt verloren gegangen, im Weihnachtsgeschäft hätte sie ein Drittel des Jahresumsatzes gemacht. Ihre Beschäftigten brauchte Rongen teilweise auch während der schlechten Monate – etwa um die Vorausplanung zu erledigen oder einen Online-Shop aufzubauen.

„Die Hilfen, die wir jetzt bekommen, sind demgegenüber eine absolute Frechheit“, sagt Rongen. Allein der zugrundegelegte Umsatzeinbruch etwa orientiere sich an Geschäftszahlen, bei denen zu anderen Zeiten Betriebe längst aufgegeben hätten. Die Hilfe ersetze nur Bruchteile von Fixkosten, die viele Läden in wenigen Monaten in den Ruin treiben könnten. „Alles in allem ist es nicht mal ansatzweise das gleiche, wie es etwa die Gastronomen bekommen“, so Rongen. „Dass es mich überhaupt noch gibt, habe ich meinem guten Netzwerk zu verdanken und weil ich in vielen Dingen fit bin“, so die Unternehmerin. Sie wisse nicht, wie in der aktuellen Lage Händler überleben, die sprachlich, rechtlich, betriebswirtschaftlich nicht so firm sind.

„Es gibt eine große Dramatik, gerade im Mode- und Textileinzelhandel“, sagt Andreas Topp, Leiter Handel bei der IHK. Anders als bei den Novemberhilfen habe der Handel keinen Umsatzersatz angeboten bekommen. „Das ist für viele existenzbedrohend, gerade hier haben viele Unternehmen keine große Kapitaldecke.“ Zudem summierten sich die Probleme der Corona-Krise, leere Innenstädte, fehlende Kultur- und Gastroangebote, zu einem Komplex, der das gesamte City-Ökosystem bedrohe. „Dass etwa die Überbrückungshilfe 3 noch nicht angelaufen ist, macht die Lage nicht einfacher“, so Topp. Ohne Perspektive und schnelle Hilfe wachse die Not jeden Tag. „Im Textilbereich gibt es zusätzliche Probleme, denn hier muss man sich zwangsläufig mit Saisonware eindecken, die man dann auch verkaufen muss.“ Prominente Beispiele wie die Pleite der „Adler“-Kette zeigten, dass die Lage überaus prekär sei: „Die Einschläge“, so Topp, „kommen leider näher.“

OB Boris Palmer: Appell an Minister Peter Altmaier

In einem Offenen Brief hat sich Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer an Wirtschaftsminister Peter Altmaier gewandt: „In großer Sorge“ um die Tübinger Altstadt rechnet Palmer anhand der Lage der zwei auch vom TAGBLATT befragten Betriebe vor, wie existenzbedrohend die aktuelle Lage im Lockdown für den Einzelhandel ist. „Ohne Handel wären unsere Städte nicht wieder zu erkennen. Wie leer und öde es dann aussieht, ist derzeit unmittelbar spürbar, da die meisten Ladentüren geschlossen bleiben“, so Palmer. Der OB fordert in seinem Schreiben unter anderem, bei der aktuellen Überbrückungshilfe die monatliche Zuschussgrenze von 500.000 Euro zu streichen, die Deckungsgleichheit von Schließungszeitraum und Entschädigungszeitraum , bei verbundenen Unternehmen die Mietzahlungen anzuerkennen, hohe und schnelle Zahlung von Abschlägen und die Berücksichtigung von verderblicher und Saisonware bei der Fixkostenerstattung (letzteres soll nach Auskunft der IHK Reutlingen bereits eingebaut werden). Ob indes der weitere Lockdown überhaupt in der Form erforderlich sei, sei strittig, so Palmer. „Wenn man sich aber für die Schließungen entscheidet, dann müssen die Finanzhilfen so gestaltet sein, dass die Geschäfte überleben können.“ Auch die EU sei aufgerufen, den Widerstand dagegen aufzugeben, Hilfen über vier Millionen Euro pro Betrieb zu gewähren. „An dieser Stelle“, so Palmer, „wünsche ich Ihnen Erfolg in Brüssel.“

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Erstellt:
13.01.2021, 19:59 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 47sec
zuletzt aktualisiert: 13.01.2021, 19:59 Uhr

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