Fußball

Gelbe und Rote Karte: Idee an einer Londoner Ampel

Vor genau 50 Jahren zückte der Mannheimer Schiedsrichter Kurt Tschenscher die erste Karte im Sport. Die Idee hatte sein Stuttgarter Kollege Rudolf Kreitlein. Zeitgleich kam der Vorschlag zum Elfmeterschießen.

31.05.2020

Von Gerold Knehr

Der Stein des Anstoßes: Der Argentinier Antonio Rattin (l.) weigert sich, den Platz zu verlassen. Foto: PA/dpa

Der Stein des Anstoßes: Der Argentinier Antonio Rattin (l.) weigert sich, den Platz zu verlassen. Foto: PA/dpa

Am Ende des 19. Jahrhunderts setzten der Schwabe Gottlieb Daimler und der Badener Carl Benz mit ihren Patenten auf Verbrennungsmotoren entscheidende Impulse für den Automobilbau. Daraus entstand ein PKW-Hersteller, dessen Stern bis heute leuchtet.

Ein ähnliches schwäbisch-badisches Phänomen gibt es auch im Fußball. Der Mannheimer Schiedsrichter Kurt Tschenscher und sein Stuttgarter Kollege Rudolf Kreitlein waren maßgeblich an der Erfindung der gelben und roten Karten sowie des Elfmeterschießens beteiligt. An diesem Wochenende vor exakt 50 Jahren wurde in Mexiko die erste gelbe Karte der Fußball-Geschichte gezückt. Und, welch ein Zufall: Fast auf den Tag genau, am 30. Mai 1970, erfolgte in Bayern der erste Schritt zum Elfmeterschießen.

31. Mai 1970. Die Weltmeisterschaft, aus der Brasilien als Sieger hervorging, wird mit der Begegnung zwischen Gastgeber Mexiko und der Sowjetunion eröffnet – vor 112 000 erwartungsvollen Zuschauern im Aztekenstadion und bei 35 Grad Celsius. Das Eröffnungsspiel war eine zähe, verkrampfte Angelegenheit. Nur Kurt Tschenscher behielt kühlen Kopf. Als damals einer der weltbesten Referees hatte er vom Weltverband Fifa den Auftrag bekommen, von Anfang an hart durchzugreifen. Es war das erste Mal, dass einem Schiedsrichter gelbe und rote Karten zur Verfügung standen. Tschenscher machte von der Gelben regen Gebrauch: Er zückte sie viermal. Erstmals in der 31. Minute. Der sowjetische Spieler Kakhi Asatiani hatte den Mexikaner Javir Valdivia zu hart angegangen – die erste gelbe Karte der Fußball-Geschichte. Nach dem 0:0 wurde Tschenscher als bester Mann auf dem Platz gefeiert.

Ein Spieler stellt sich dumm

Das war Kollege Rudolf Kreitlein vier Jahre zuvor beim Viertelfinale der WM 1966 zwischen England und Argentinien (1:0) verwehrt geblieben. Im Gegenteil, er konnte das Wembleystadion nur unter Polizeischutz verlassen.

Was war passiert? Kreitlein, ein schmächtiger, fast kahlköpfiger Schneider aus Stuttgart, hatte in einer ruppigen Begegnung zahlreiche Spieler bereits mündlich verwarnt. So auch den zwei Köpfe größeren argentinischen Kapitän Antonio Rattin. Der reklamierte kurz darauf beim Referee. Kreitlein verwies ihn des Feldes. Rattin aber tat, als hätte er nicht verstanden, gab das Unschuldslamm und weigerte sich, den Platz zu verlassen. Er habe von der mündlichen Verwarnung nichts mitbekommen, sagte er, verlangte nach einem Dolmetscher, um das „Missverständnis“ aufzuklären. Das Spiel stand kurz vor dem Abbruch, Fifa-Funktionäre eilten auf den Platz, Polizei marschierte auf. Nach acht Minuten konnte es doch noch fortgesetzt werden.

Fifa setzt auf einen Engländer

In der Nachbesprechung dieser Begegnung waren sich Kreitlein und der englische Schiedsrichterbetreuer Ken Aston einig: „Die Missverständnisse auf der Tribüne und auf dem Platz mussten ein Ende haben.“ Inspiriert von den vielen Verkehrsampeln auf der Fahrt vom Wembley-Stadion zum Hotel entstand die Idee mit den Gelben und Roten Karten als weltweit verständliche und eindeutige Symbole. „Hätte ich schon 1966 die Karten gehabt, hätten mich die argentinischen Spieler sofort verstanden“, sagte der 2012 verstorbene Kreitlein später. Er beharrte bis zuletzt darauf, dass die Karten seine Idee waren. Die Fifa hingegen spricht die Erfindung zum größten Teil Aston zu.

Nach über dreijähriger intensiver Prüfung durch den Regelboard der Fifa stand Tschenscher bei der WM 1970 erstmals diese Möglichkeit zur Verfügung – und er wurde zum Kartenpionier. Zwei Jahre zuvor hatte der Mannheimer, der als erster Referee bei drei Weltmeisterschaften eingesetzt wurde, unbeabsichtigt eine weitere Entwicklung eingeleitet. Beim EM-Halbfinale 1968 in Neapel zwischen Italien und der UdSSR, das er ebenfalls leitete, stand es nach 120 Minuten immer noch 0:0. Für diesen Fall sah das Regelwerk der Uefa nur einen Ausweg vor: Ein Münzwurf musste entscheiden. Tschenscher schritt in der Schiedsrichterkabine zur Tat. Fortuna entschied sich für Italien.

Dieses Verfahren befriedigte niemanden. Auch nicht den bayerischen Schiedsrichter Kurt Wald. Der stellte heute vor 50 Jahren, am 30. Mai 1970 beim Verbandstag des Bayerischen Fußballverbandes den Antrag, den Sieger in so einem Fall per Elfmeterschießen zu ermitteln. Walds Vorschlag setzte sich durch. Bei der EM 1976 entschied Uli Hoeneß? Fehlschuss das Finale zugunsten Tschechiens. Später profitierte die deutsche Nationalelf mehrmals vom Elfmeterschießen.

Die vor 50 Jahren angestoßenen Entwicklungen sind heute nicht mehr aus dem Fußball wegzudenken. Bestes Beispiel ist das Viertelfinale im DFB-Pokal. Sieben gelbe Karten und 20 Strafstöße waren nötig – dann hatte Regionalligist 1. FC Saarbrücken am 3. März die Sensation geschafft und Bundesligist Fortuna Düsseldorf mit 8:7 bezwungen.

Info

Montage: Bock / Fotos: PA/dpa, ©9dream studio/Shutterstock.com

Montage: Bock / Fotos: PA/dpa, ©9dream studio/Shutterstock.com

In der Bundesliga wurde das Kartensystem zur Rückrunde der Saison 1970/71 eingeführt. Die erste Rote Karte sah Friedel Lutz (Eintracht Frankfurt) am 3. April 1971.

Bei einer Fußball-Weltmeisterschaft kassierte der Chilene Carlos Caszely nach einem Revanchefoul an Berti Vogts iWM-Vorrundenspiel Deutschland - Chile am 14. Juni 1974 erstmals mit Rot bestraft. Seit 1991 gibt es zudem die gelb-rote Karte.

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Erstellt:
31.05.2020, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 26sec
zuletzt aktualisiert: 31.05.2020, 06:00 Uhr

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