Übrigens

Die Generation mit dem Idiotenszepter

30.03.2016

Von Lorenzo Zimmer

Wenn die Neckarfront samt Hölderlinturm Gefühle hätte, Anstand und Manieren zu schätzen wüsste, hätte sie in letzter Zeit wohl zunehmend resigniert. Denn haben sich Touristen ihr jahrzehntelang zugewandt, um sie zu bestaunen, sieht die Sehenswürdigkeit mit Hölderlinturm ihre Bewunderer heute oft nur noch von hinten.

Schuld daran: Die Selfiesticks. Im Internet auch als „Idiotenszepter“ bezeichnet. Eine zugegebenermaßen geniale, weil den Nerv der Zeit treffende Erfindung. Denn früher musste man, frisch aus Namibia und Tansania zurückgekehrt, Freunde und Bekannte zum Dia-Abend laden, um sie davon zu überzeugen, wie kulturell anspruchsvoll, erlebnisreich und bildungsfördernd die weite Reise war. Hatten sie stundenlange Erzählungen über tellergroße Spinnen in der Dusche, Pannen mit dem Jeep und exotische Speisen ertragen, hatten sie im Gegenzug zumindest eine Flasche Wein und eine Tüte Duty-Free-Chips während der Vorführung erhalten. Win-win.

Heute reicht ein Blick in soziale Medien wie Facebook: Der entfernte Bekannte vor dem Eiffelturm, im Pool, sein Frühstück am Flughafen von Dubai, sein Gesicht im Smog von Peking kaum zu erkennen. Das Selfie ist Ausdruck einer Generation, die – so scheint es manchmal – nicht reist, um fremde Eindrücke zu genießen und sich so selbst zu bilden, sondern um Freunde und entfernte Bekannte davon zu überzeugen, wie hip, kosmpolit und kulturell interessiert man ist. Und zwar ohne, dass danach gefragt wurde.

Doch bei diesem Phänomen geht es längst nicht nur um Urlaubsfotos. Die gesamte Freizeitgestaltung ist geprägt von Selfies, Videoclips und Fotobeweisen. Bei einem Konzert weiß man oft gar nicht so genau, was das Erlebnis mehr stört: Der Nebenmann, der mit Smartphone am Selfiestick ständig bei leuchtendem Display mitfilmt oder der Hintermann, der dauernd ruft: „Handy weg, Handy weg!“

Smartphones sind einerseits ein Segen. Die ständige Verfügbarkeit von Informationen und Fakten bereichert Gespräche. Die Möglichkeit auch über weite Entfernungen mobil und flexibel Kontakt zu halten, gab es so früher nicht. Doch mit der Smartphonedichte hat auch der Drang zur Selbstdarstellung zugenommen. In den sozialen Medien wird beinahe jeder zum Voyeur – und meist völlig freiwillig zum Opfer desselben Voyeurismus.

Stellen Sie sich vor, Sie erzählen Sokrates von diesem kleinen Alleskönner in ihrer Tasche. Mit ihm können Sie auf das gesamte Wissen der Menschheit mobil und jederzeit zugreifen, sind zudem mit Milliarden anderer Erdenbewohner in Echtzeit vernetzt. Und dann fragt er: „Und wozu das alles?“ Die ehrliche Antwort vieler sähe wohl so aus: „Ich filme damit mein Leben, statt es zu leben.“