Hirnforschung und Bungee-Springen

Die Frage ist: Wann springen sie?

Das Gehirn springt voraus: Tübinger Wissenschaftler maßen bei zwei Bungee-Springern, wie die Entscheidung für den extremen Sprung fällt.

27.01.2018

Von Ulrich Janßen

Kurz vor dem Absprung befinden sich Bungee-Springer in einer extremen Entscheidungssituation.Bild: © vetal1983 / fotolia

Kurz vor dem Absprung befinden sich Bungee-Springer in einer extremen Entscheidungssituation.Bild: © vetal1983 / fotolia

Wann entscheidet sich ein Bungee-Springer, von einer 192 Meter hohen Brücke in die Tiefe zu springen? Das haben der Tübinger Neurowissenschaftler und Psychiater Surjo Soekadar und sein Doktorand Marius Nann jetzt in einem spektakulären Experiment erforscht, über das der aktuelle „Spiegel“ heute berichtet.

Zu dem Versuch auf der Europabrücke am Brenner waren zwei semi-professionelle Klippen-Springer angetreten, wie Soekadar dem TAGBLATT gestern auf Anfrage bestätigte. Vor der extremen Entscheidungssituation seien die Springer mit einem hochentwickelten, kabellosen Messgerät ausgestattet worden. Damit ließ sich die Hirnaktivität sowie der genaue Zeitpunkt der Absprünge präzise erfassen.

Die Messungen zeigen nun erstmals, dass es möglich ist, das sogenannte „Bereitschaftspotential“ auch außerhalb des Labors und unter Extrem-Bedingungen zu messen. Nachdem die Neurologen Hans-Helmut Kornhuber und Lüder Deecke das Potential entdeckt hatten, zeigte der Neuropsychologe Benjamin Libet in den Achtziger Jahren, dass die bewusste Entscheidung für eine Handlung erst etwa eine Sekunde nach Beginn des elektrischen Signals erfolgt. Das bestätigten jetzt auch die Messungen an den beiden Springern.

Soekadar interessiert sich für das „Bereitschaftspotenzial“, weil er Maschinen entwickelt, die sich durch Hirnsignale steuern lassen. Ein Beispiel ist das „Exoskelett“, eine Roboterhand, mit der Querschnittsgelähmte allein mit Hirnströmen und Augenbewegungen ihre gelähmte Hand bewegen können. Das Bungee-Experiment dient der Verbesserung der Hardware. Die Forscher wollen aber auch sicherstellen, dass die Steuerung der Roboterhand so zuverlässig wie möglich erfolgt.

Das ist technisch ein Problem. Aber es wirft auch fundamentale Fragen auf. Wenn eine Handlung im Gehirn schon messbar ist, bevor der Mensch sie bewusst trifft, stellt das die Vorstellung eines freien Willens infrage. Wissenschaftler wie Gerhard Roth oder Wolf Singer bezeichnen den freien Willen daher auch als „Illusion“ oder „soziales Konstrukt“.

Soekadar dagegen ist überzeugt, dass Menschen einen freien Willen haben. Er verweist auf Experimente, die zeigen, dass sich das aufgebaute Bereitschaftspotenzial bis etwa 200 Millisekunden vor der Handlung auch wieder unterbrechen lasse. Zudem entspreche die Annahme eines fundamentalen Determinismus, wie sie von Roth und Singer vertreten werde, nicht den Erkenntnissen der neuen Physik.

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Erstellt:
27.01.2018, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 03sec
zuletzt aktualisiert: 27.01.2018, 01:00 Uhr

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