Weihnachtsengel mit Handicap

Die FLUGPLATZ-Fortsetzungsgeschichte zu den Feiertagen, Folge 1: das Mitarbeitergespräch

Mopsael ist einer der zahlreichen Weihnachtsengel, die Jahr für Jahr bei allen Aufgaben helfen, die dem Weihnachtsmann, dem Christkind und anderen über den Kopf wachsen. Doch Mopsael hat ein Problem: Er war nicht artig – und ausgerechnet an Weihnachten wird er aus dem Engels-Chor verstoßen.

25.12.2015

Von Moritz Rentzsch

Ich sehe mich vor einem Loch im Maschendrahtzaun schweben. Niemand ist bei mir, um mich ist Nichts. Unsicher schiele ich durch das Loch, das eben erst und nur für mich entstanden ist: Seine Ränder sind verschwommen, ich schaue von der falschen Seite durch eine Lupe. Hinter mir liegt der Himmel. Milch in Bächen, Honig in Seen, Meere voller Erdbeersaft.

Die FLUGPLATZ-Fortsetzungsgeschichte zu den Feiertagen, Folge 1: das Mitarbeitergespräch
Die Erinnerung an meine Vergangenheit dort strahlt gleißend hell in meinem Kopf. Unwirklich. Trotzdem bricht das ganze Licht schon jetzt durch einen grauen Schleier. Das Loch zieht mich magisch an, verlockt mich, die Seiten zu wechseln: von Ewigkeit zu Vergänglichkeit. Dafür verspricht es mir viel, vielleicht alles, was ich mir wünsche: Aufgaben in einer Gemeinschaft, Abenteuer, Leben, Ziel und Weg – eine Struktur.

Ich könnte es mir so einfach machen. Stattdessen wache ich auf. Schweißgebadet. Ein Gespenst spukt in meinem Kopf. Seit meinem Sturz werde ich von solchen Albträumen geplagt. Seit meinem Mitarbeitergespräch mit dem Chef. Von ihm erfuhr ich von den himmlischen Prüfungen. Seitdem kann ich nicht mehr ruhig schlafen.

Ich bin, nein, ich war: Mopsael, einer der wenigen erlesenen Weihnachtsengel. Schon bei meiner Schöpfung war dem Chef klar, dass ich im Weihnachtsgeschäft landen würde: mit meinen strahlend blauen Augen, in denen sich das unendliche Blau des Himmels spiegelte. Mit meinen silbernen Locken, die das Licht der Sonne reflektierten. Und mit den goldenen Flügeln, die mich erhaben über dem Boden schweben ließen.

Das Gespräch mit dem Chef erwischte mich eiskalt. Zugegeben, ich hatte bei meinen Aufgaben in der Weihnachtsbäckerei mehr Teig genascht als Plätzchen geformt. Ein paar Geschenke hatte ich lieber an arme Kinder verteilt, als an die, die sowieso schon in riesigen weißen Häusern mit Säulen und Doppelgaragen wohnen. Deren Eltern mussten sich wohl direkt beim Chef beschwert haben: Einer schriftlichen Vorladung folgte ich ins Zimmer der Dreifaltigkeit (dritter Stock im Hauptquartier, den linken Gang ganz nach hinten).

„Mopsael!“, sprach der Chef mit sonorer Stimme: „Du wirst die Hingabe zu deinen Pflichten beweisen müssen! Suche als Mensch nach Sinn und Ziel, lasse dich prüfen. Nur dann kannst du im nächsten Jahr erneut zum Weihnachtsengel werden!“

Als er fertig war, plumpste ich mit einem dumpfen „Bumms“ zu Boden. Ich spürte, wie mein Heiligenschein verblich. Jetzt bin ich Mopsael, der verstoßene Engel.

Beim Blick in den Spiegel heute sehe ich nur Durchschnitt: Die Haare struppig und straßenköterblond. Um die Augen dunkle Ringe. Auch Schweben klappt schon lang nicht mehr: Die anfänglichen Versuche glichen kleinen Hopsern – bis Newton, ein Mensch wie jetzt auch ich, mich auf den Boden der Tatsachen holte. Bevor das Weihnachtsgeschäft so richtig angefangen hat, bevor wir in Kirchen und auf Marktplätzen singen, bin ich raus aus dem Job. Von heute an darf ich nicht einmal mehr im Himmlischen Chor Stücke von Bach singen.

Um wieder Engelsstatus zu erreichen, muss ich also Gutes tun. Ich muss als Mensch Prüfungen absolvieren und den Chef von meiner Hingabe überzeugen. So darf ich in den Chor zurück. Na dann: Los geht‘s!

Die Mopsael-Story

Bis zum 2. Januar sind die jungen Autoren der Redaktion FLUGPLATZ auf den Spuren von Mopsael, dem Engel mit leichtem Übergewicht. Jeden Tag ein anderer Autor, jeden Tag ein weiteres Abenteuer. Teil Zwei der Fortsetzungsgeschichte folgt am kommenden Montag, 28. Dezember.Logo: Rafael Winniger

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Erstellt:
25.12.2015, 10:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 44sec
zuletzt aktualisiert: 25.12.2015, 10:00 Uhr

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