Einhellig gegen den Schwarzseher

Die Debatte im Tübinger Gemeinderat zu Äußerungen von Boris Palmer über Flüchtlinge

Der Tübinger Gemeinderat wirft dem Oberbürgermeister vor, bei Flüchtlingen nur Negatives zu sehen, zu verallgemeinern, zu diskriminieren und zu polarisieren.

24.07.2018

Von Gernot Stegert

Nachdenklich wie auf diesem Foto folgte Oberbürgermeister Boris Palmer am Montagabend der Kritik fast des kompletten Gemeinderats an seinen Äußerungen über Flüchtlinge. Archivbild: Metz

Nachdenklich wie auf diesem Foto folgte Oberbürgermeister Boris Palmer am Montagabend der Kritik fast des kompletten Gemeinderats an seinen Äußerungen über Flüchtlinge. Archivbild: Metz

Das ist ungewöhnlich: Oberbürgermeister Boris Palmer redet nicht frei, sondern verliest eine Erklärung. Und in der anschließenden Debatte im Gemeinderat am Montagabend verkneift er sich jeden Kommentar. Er ist auf dem Stuhl nach unten gerutscht und lässt die Stellungnahmen der Fraktionen mit versteinerter Miene über sich ergehen. Es geht um ihn selbst, um seine umstrittenen Äußerungen zu Flüchtlingsthemen. Was Palmer vor 30 Gästen zu hören bekommt, ist fast durchweg harsche Kritik, auch von den vielen Wohlwollenden in der Runde. Am Ende gibt es eine Mehrheit für eine Resolution gegen den OB, der sich weiterhin im Recht sieht.

Den Auftakt macht SPD-Fraktionschef Martin Sökler. Er hat den Antrag im Mai eingebracht. Da war Palmer in Ulm von einem Rüpelradler mit schwarzer Hautfarbe und Goldkette fast angerempelt worden und hatte daraus geschlossen, es müsse ein Asylbewerber sein. Das sei kein Rassismus, sondern Statistik, verteidigte der OB sich danach. Sökler zieht eine klare Grenze: „Debattenbeiträge sind in Ordnung. Nicht in Ordnung ist es, wenn Sie spekulieren und pauschalieren und ganze Gruppen von Menschen diskreditieren.“ Rüpelradler gebe es überall – egal welcher Hautfarbe. Von dieser auf den Asylstatus zu schließen, sei diskriminierend. Sökler warf Palmer vor: „Sie machen fremdenfeindliche Ressentiments hoffähig.“

Der SPD-Fraktionschef glaubt nicht an Ausrutscher. Palmer genieße den „Dissidentenstatus“ in seiner Partei: „Sie geben den Sarrazin.“ Palmer benutze „ein Vokabular, das spaltet und vielen Ehrenamtlichen und der Verwaltung wie ein Schlag ins Gesicht vorkommt.“ Das schade der eigenen guten Politik: „Sie dementieren sich selbst.“ Debatten über Integrationsprobleme „müssen möglich sein, aber Ihre Aufgabe als Oberbürgermeister ist es abzuwägen. Sie sprechen nicht für Tübingen.“ Sökler fordert Palmer auf, sich zu entschuldigen.

Gerlinde Strasdeit (Linke) ergänzt: „Mit seinen ständigen medialen Provokationen hat Herr Palmer nicht in unserem Namen gesprochen. Der Gemeinderat steht für eine offene Integrationspolitik.“ Der OB müsse sich unmissverständlich ausdrücken. Als Strasdeit die Grünen angreift, dass diese sich nicht klar von ihrem Parteifreund distanziert hätten, wird es kurz turbulent. Bernd Gugel ruft empört dazwischen: „Wir waren die Ersten.“ Markus Vogt meint, er habe ein Spiel namens „Sprücheraten“ entwickelt: Was stammt von Palmer, was von der AfD?

Nach den Antragstellern ist der Kritisierte dran. Palmer liest eine Erklärung mit auffallend vielen und langen Zitaten ab. Er sei falsch verstanden worden, habe sich daher nicht zu entschuldigen. Rassismusvorwürfe würden eine nötige Debatte abwürgen. Danach schweigt der OB. Er hatte sich für befangen erklärt und der Ersten Bürgermeisterin Christine Arbogast die Leitung des Tagesordnungspunkts überlassen.

Eine echte Diskussion gibt es nicht. Die Fraktionen geben ihre Stellungnahmen ab. Nach Palmer sind AL/Grüne dran. Wie würden sich die Parteifreunde verhalten? „Wie Sie sich vorstellen können, ist das für uns AL/Grüne heute keine einfache Sitzung“, begann Annette Schmidt. „Wir stehen nach wie vor zu unserem OB, wir schätzen seine Arbeit“ – auch die Flüchtlingspolitik der Stadt. „Aber wir finden es überhaupt nicht gut, wie Sie, Herr Palmer, in der Öffentlichkeit über das Thema Flüchtlinge sprechen.“ Denn: „Flüchtlinge sind in Ihrer Wahrnehmung nur eine Last, eine Bedrohung, eine Gefahr für die Stadt. Sie können das ganze Thema nur noch durch eine sehr dunkle, düstere Brille sehen. Sie suchen Verbündete – Sebastian Kurz –, die für uns keine Verbündeten sind, Sie unterstützten Vorschläge – wie Ankerzentren –, die für uns nicht akzeptabel sind.“

Natürlich dürften Probleme nicht unter den Teppich gekehrt werden. Doch Palmer skandalisiere Einzelfälle. Das verstärke Vorurteile. „Zuschreibungen aufgrund der Hautfarbe, der Herkunft und des Verhaltens und vereinfachende Verallgemeinerungen, wie Sie sie vornehmen, führen zu Stigmatisierung und bei den Betroffenen zu Frustration und Ohnmachtsgefühl.“

Arnold Oppermann (CDU) schließt sich der Kritik an, nimmt Palmer aber gegen Rassismusangriffe in Schutz. Der OB solle dem freundschaftlichen Rat seines Parteifreundes Cem Özdemir folgen und jemand anderes vor dem Abschicken über Facebookposts lesen lassen; schon aus ökologischen Gründen. Denn jeder Shitstorm verbrauche viel Strom im Netz.

Ernst Gumrich (Tübinger Liste) wirft Palmer verantwortungslosen Umgang mit der Sprache vor – etwa mit Ausdrücken wie „Gutmensch“ oder „Menschenrechtsfundamentalist“. Zugleich stilisiere er sich als Opfer, was nerve. Palmer überzeichne laufend Gefahren und mache „einen Rüpelradler und eine unflätige Asylantengruppe am Bahnhof zur Staatsaffäre“.

Dietmar Schöning (FDP) bemüht sich um Ausgewogenheit: Man müsse Ressentiments entgegentreten, dürfe aber zugleich keine Probleme verschweigen. Doch es sei „Verpflichtung der Politik, dies verantwortungsbewusst zu tun: ohne Verkürzung, ohne Zuspitzung, ohne Verallgemeinerung.“ Der Liberale bekennt: „Er ist mein Freund seit langen Jahren.“ Schöning: „Die Verurteilungsrhetorik des Antrags gefällt mir ganz und gar nicht. Aber, lieber Boris, denk nochmal darüber nach, wie du die Wirkungen der Worte besser steuern kannst zum Nutzen der Stadt.“

Als einziger im Gemeinderat verteidigt zum Schluss der fraktionslose Jürgen Steinhilber Palmer. Dessen Wortwahl sei ein „Stilmittel, um Aufmerksamkeit zu generieren“. Die Debatte habe „den Geschmack eines Tribunals“.

Für die Resolution stimmen SPD, Linke und Markus Vogt sowie die halbe Fraktion von AL/Grünen (19 Stimmen). Die andere Hälfte und die Tübinger Liste (9 Stimmen) enthalten sich, weil sie Palmer nicht wie ein Kind zum Entschuldigen auffordern wollen. Aus dem gleichen Grund lehnen CDU und FDP den Antrag ab. Aus inhaltlichen Gründen ist Steinhilber dagegen (zusammen 10 Stimmen).

Die Resolution: Der Antrag von SPD und Linken sowie Markus Vogt

„Der Tübinger Gemeinderat stellt fest:

1. Oberbürgermeister Boris Palmer spricht in keiner Weise für die Stadt, wenn er Menschen anderer Hautfarbe unter Generalverdacht stellt oder wenn er aus äußerlichen Merkmalen, dem Sozialverhalten oder dem Kleidungsstil Rückschlüsse auf Herkunft und Status von Menschen zieht. Solche Pauschalierungen zeugen von Vorurteilen und sind mit dem weltoffenen Charakter unserer Stadt nicht vereinbar. Sie spalten unsere Stadtgesellschaft und sind in keiner Weise lösungsorientiert.

2. Die Stadt wird ihre erfolgreiche Arbeit bei der Integration Geflüchteter bei adäquater dezentraler Unterbringung und einer guten Sozialbetreuung aus einer Hand fortsetzen. Dieses große Engagement sowohl der Stadtverwaltung als auch vieler Ehrenamtlicher in unserer Stadt darf nicht konterkariert werden durch Einlassungen des Oberbürgermeisters, die Menschen anderer Hautfarbe stigmatisieren.

Der Tübinger Gemeinderat erwartet vom Oberbürgermeister, dass er sein Handeln, Reden und Schreiben darauf ausrichtet, dass sich alle Menschen in unserer Stadt, gleich welcher Herkunft oder Hautfarbe sie sein mögen, wohl und willkommen fühlen können und er Fremdenfeindlichkeit entschieden entgegentritt statt sie zu befördern und hoffähig zu machen.

Der Tübinger Gemeinderat fordert den Oberbürgermeister auf, seine Äußerungen zurückzunehmen und sich dafür zu entschuldigen.“

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Erstellt:
24.07.2018, 21:30 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 21sec
zuletzt aktualisiert: 24.07.2018, 21:30 Uhr

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