Volker Rekittke denkt über die Chaos-Theorie nach

Die Autobahn nach Genua und die Sache mit dem Flügelschlag

Jeden Tag, jede Sekunde triffst du eine Entscheidung, die dein Leben verändern kann“, sagt Franka Potente in dem Film „Lola rennt“. Wenige Sekunden Verzögerung oder Beschleunigung beim Hinunterhechten durchs Treppenhaus können die Zukunft verändern.

16.08.2018

Von Volker Rekittke

Cappuccino. Archivbild: Metz

Cappuccino. Archivbild: Metz

Manchmal dramatisch. Wie der Flügelschlag eines Schmetterlings, der irgendwo auf der Welt einen Wirbelsturm verursacht. Diesen aus der Chaos-Theorie stammenden „Butterfly Effect“, auch „nicht-lineares-Phänomen“ genannt, durften meine Freundin und ich auf der Rückfahrt von der Côte d’Azur erleben.

Um 13.12 Uhr erreichte uns die erste Whatsapp-Nachricht auf der Autobahn Richtung Mailand: „In Genua ist eine Autobahnbrücke eingestürzt. Geht es euch gut?“ Meist wissen ja die Daheimgebliebenen weit früher und besser über Unfälle, Unwetter oder Terroranschläge in den Urlaubsregionen Bescheid als die Urlaubenden selbst. Ein Blick aufs Handy klärte uns auf: Am Tag vor dem Ferragosto – den Sommerferien-Höhepunkt am 15. August verbringt ganz Italien am Meer – ist die wichtige Morandi-Autobahnbrücke bei Genua zusammengebrochen. Stand Mittwoch sollen dabei mindestens 42 Menschen ums Leben gekommen sein.

Wir rechneten zurück: Um 11.30 Uhr, dem Zeitpunkt des Einsturzes, waren wir etwa auf Höhe Genua. Wir waren glücklicherweise eine Autobahn früher gen Norden abgebogen, weil wir uns kurz zuvor für einen Cappuccino bei der Verwandtschaft im Tessin entschieden hatten. Wären wir bei unserem ursprünglichen Plan – ein Cappuccino am Hafen von Genua – geblieben, wären wir am Dienstag gegen 11.30 Uhr über die Morandi-Brücke gefahren. Zugegeben: Die Wahrscheinlichkeit, dass wir in den Sekunden des Einsturzes die 100 bis 200 Meter lange Einsturzstelle passiert hätten, wäre sehr gering gewesen. Aber der Flügelschlag eines Schmetterlings …

Wer ist nun schuld an der Katastrophe: Die Sparvorgaben der EU, die wichtige Infrastrukturausgaben blockierten? Der heftige Regen? Der Brückenbetreiber „Autostrade per l’Italia“? Interessant wäre es schon, zu erfahren, was mit den Milliarden-Einnahmen aus der Maut geschieht, die den Betreibern der Autobahnen seit deren Privatisierung 1999 hohe Profite garantieren.

Fakt ist: Als die 1182 Meter lange Brücke bei Genua 1967 eröffnet wurde, war die Verkehrslage in Europa noch eine völlig andere. In Deutschland waren 11 Millionen Autos zugelassen. Aktuell sind es 46 Millionen, von denen unzählige in diesen Sommerwochen in Richtung Mittelmeer fahren. So wie wir. Wenig vorteilhaft auf die Brückenstatik dürften sich auch die Erschütterungen durch immer mehr Laster ausgewirkt haben. „Der Güterverkehr auf den europäischen Autobahnen verursacht immense Schäden für Mensch und Umwelt“, heißt es in einer Studie des Verkehrsclubs Deutschland.

So richtig klar wurde es uns erst nach unserer Rückkehr, dass die Entscheidung für einen Cappuccino in Intragna statt in Genua eine gute war. Wir genießen den Augenblick jetzt noch ein bisschen bewusster. Und können uns ein paar Gedanken darüber machen, ob unsere Art des Konsums und der Mobilität noch lange gut geht. Auch wenn wir nur zwei von jenen geschätzt 200 Millionen Urlaubern sind, die diesen Sommer quer durch Europa reisen.

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Erstellt:
16.08.2018, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 24sec
zuletzt aktualisiert: 16.08.2018, 01:00 Uhr

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